Grundversorgung

Oberriet war eine arme Gemeinde. Es war die finanziell am zweitschlechtesten platzierte Gemeinde im Kanton (nur Flums - die flächenässig grösste Gemeinde im Kanton St. Gallen - war noch etwas schlechter dran). In Oberriet war ebenfalls alles auf eine riesige Fläche verstreut, was die Erstellung von Infrastrukturen teuer machte. Oberriet ist die drittgrösste Gemeinde, bei relativ wenig Einwohnern mit Streubauweise.

Auch die einzelnen Bewohner waren in der Regel sehr arm. Besonders schlimm war es kurz nach 1816, dem Jahr ohne Sommer, nachdem am 10. April 1815 der Vulkan Tambora auf der indonesischen Insel Sumbawa ausgebrochen war. Aber auch in der Folge waren viele Oberrieter gezwungen auszuwandern oder zumindest anderswo in der Schweiz ihre Zukunft zu suchen.

Nahrung und Grundbedürfnisse

Selbstversorgung

Bis ins 19. Jahrhundert die meisten Oberrieter Selbstversorger. Sie deckten ihren Bedarf an Agrarprodukten oder Gebrauchsgegenständen selbst. Geld gab es nur, wenn etwas auf dem Markt verkauft werden konnte oder wenn ein Tier veräussert wurde.

Schlechte Erntejahre führten schnell zu Notlagen in den einzelnen Familien. Die Leute waren darauf angewiesen, dass "man sich kannte" und sich in der Not gegenseitig aushalf. 1816/17 funktionierte selbst dies nicht mehr. In der Schweiz regnete es 1816 praktisch kontinuierlich von Mai bis September, in den Sommermonaten fiel gar Schnee bis auf 700 Meter. Vor allem die Nordostschweiz wurde sehr hart von der Hungersnot getroffen, die Getreidepreise stiegen um das 6-fache. Jeder Kanton schaute für sich («sie sperrten einander das Getreide»). Viele Menschen assen aus Verzweiflung Gras. Wenn sich in jener Zeit Menschen begrüssten, dann lautete die Frage immer: "Hast Du heute schon gegessen?". Auch heute noch existiert die Begrüssung "Gäassa?" (aber nur noch nach dem Mittagessen).

Für einen Grossteil der Bevölkerung gab es 3 mal am Tag "Kafi und Ribel". Dazu nahm man etwas Ribel (nach Belieben mit noch etwas Zucker) auf den Löffel und tauchte ihn in den Milchkaffee. Dieser hatte am Schluss dann einige Fettaugen ("gääl vor Schmalz") und einen Ribelsatz im Beckeli. Viele Rheintaler behaupteten, dass sie durch den Ribel Rezept

3 dl Wasser und 3 dl Milch mit etwas Salz (etwa 1 EL) aufkochen, 500 g Ribelmais¹ einrühren, Hitze reduzieren, unter Rühren bei kleinster Hitze zu einem dicken Brei köcheln. Danach zugedeckt ca. 3 Std. quellen lassen. Öl, Bratbutter oder Schmalz heiss werden lassen, Hitze reduzieren und Ribelmais-Masse beigeben und unter häufigem Rühren bei mittlerer Hitze ca. 20 Min. rösten. Zwischendurch ein paar Minuten zugedeckt stehen lassen, damit der Ribel feucht bleibt. Danach Butter portionenweise beigeben, mit einer Bratschaufel ca. 20 Min. «ribeln», bis sich goldbraune Krümelchen bilden.

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¹ Beim Ribelmais wird das ganze Maiskorn mitsamt dem Keimling gemahlen. Charakteristisch ist die weiss-beige Farbe. Bei den meisten anderen Mais-Mahlprodukten, etwa bei der Polenta, werden die Maiskörner entkeimt (um aus dem fetthaltigen Keimling Keimöl zu gewinnen). Ribel gibt es in drei Mahlungsgraden: Maisgriess, Maisdunst und Maismehl. Früher hatte es von allen Mahlungsgraden etwas im Ribelmais.
so stark wurden. Johanna Wüst Giger schmeckte der Ribel: "Wenn's denn no guet gschmalzed gsi ischt, isch dä scho guet gsi."

Aufs Feld nahm man den 'Breantsack' mit. Die 'Breanta' war der Znüni / die Vesper (mit "Moscht und Brot, und villicht en Stumpe").

Auch sonst waren die Rheintaler in der Wahl ihrer Nahrungsmittel nicht besonders wählerisch. Da musste schon mal - wenn man Blick und Bauer Bruno D. glaubt - ein Hund oder ein Büsi herhalten um den etwas eintönigen Ribel-Speisenplan etwas aufzulockern.

Zum Heizen und zum Kochen wurde der reichlich vorhandene Torfmull herangezogen. Holz wurde zum Feuern weniger verwendet - und wenn, dann nur dasjenige von der Rheinholzerei (es gab sogar Leute, welche aus dem Rheinholz ihr ganzes Haus bauten, so zum Beispiel Emil Wüst). Das Holz der Ortsbürger wurde in der Regel "vergantet".

Selbst Kinder halfen den Eltern gerne beim Rheinholzen. Wenn der Rhein Holz führts kamen diese dann oft auch nicht zur Schule. Als ein Montlinger Lehrer einmal einen Schüler fragte, warum er Tags zuvor nicht zur Schule gekommen war, sagte dieser: "Der Vater hatte gesagt, dass er ja alle Tage zur Schule gehen kann, aber der Rhein bringe nicht alle Tage Holz."

Viele Leute hatten keine Matratzen. Matratzen kamen im 13. Jahrhundert aus dem arabischen Raum (das Wort bedeutete dort 'Bodenkissen") nach Europa. Viele Menschen in unseren Gefilden mussten jedoch weiterhin auf Stofflumpen oder dünnen Matten auf hartem Boden schlafen. Die Betten (vor allem der Kinder) waren oft einfache Bretterrahmen am Boden, in welche Laubsäcke gelegt wurden. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts gab es im Spätherbst in den Schule 2 bis 3 Tage 'Laubferien'. Wenn der Föhn ging gingen dann die ärmeren Familien in den Wald um frische Blätter für die Laubsäcke zu sammeln. Gemäss Johanna Wüst Giger gaben die Laubsäcke schön warm und waren bequemer als Matratzen. Über die Laubsäcke kam ein Leintuch und darüber evtl. noch ein Über-Leintuch und zumindest eine Decke und ein Kopfkissen (mit Federn) - zumal die meisten damals nackt schliefen.

Es gab zwar Handwerker, aber diese wahre - verglichen mit den Bauern - eher dünn gesät. Gewisse Berufe, wie zum Beispiel 'Friseur' hatten in Oberriet keine Chance. Für Manner gab es jedoch freiwillige (Männer), welche als "inoffizielle" Bartschere fungierten. Geld war nicht viel im Umlauf.

Geldwirtschaft

Der Schweizer Franken wurde 1850 eingeführt. Bis dahin gab es eine Vielzahl von Münzen und Parallelwährungen. Siehe dazu 'Alte Währungen'. Diese wurde auch - parallel zum Franken - noch eine ganze Weile weiter zu Zahlungszwecken akzeptiert. In den ersten 50 Jahren seiner Existenz was der Schweizer Franken das häufig schwächelnde Anhängsel des französischen Francs. Erst mit der Gründung der Schweizerischen Nationalbank (SNB) im Jahr 1907 begann der Aufstieg zu einer starken Währung.

In Oberriet kam es im 19. Jahrhundert zu einer eher zögerlichen Industrialisierung. Der Steinbruch im Kobel (später in Montlingen), die Ziegelhütten, die Torfstecherei mit der Torfstreufabrik kamen auf. Ein Aufschwung kam dann erst eigentlich erst anfangs des 20. Jahrhunderts mit der Firma Jansen in Oberriet und mit der 'Viscose' («Société de la Viscose Suisse») in Widnau. Umgekehrt brachen in dieser Zeit auch gewisse Erwerbszweige (z.B. die Stickerei) wieder weg, was zu einer grossen Arbeitslosigkeit führte.

Die Löhne waren klein. Johanna Wüst Giger verdiente 1915 in der Stickerei-Fabrik 18 Rappen in der Stunde, 1917 als Gemüsegärtnerin 30 Rappen (3 Franken pro Tag bei 10 Stunden Arbeitszeit).

Die Bauern versorgten sich noch weitestgehend selbst, aber die Arbeiter waren nur zum Teil noch Selbstversorger. Sie wurden zu Lohnempfängern und waren darauf angewiesen, mit dem Geld ihren täglichen Bedarf zuzukaufen. Es brauchte also Läden.

Im ersten Weltkrieg war der Handel mit dem Auslang stark eingeschränkt. So wurde zum Beispiel der Wein kontingentiert, da die Einfuhr aus dem Tirol oder aus Frankreich gesperrt wurde (mit der Begründung, dass diese Staaten den Wein für ihre Truppen brauchten). Selbst der Handel zwischen den Kantonen unterlag Restriktionen. Eine Zeit lang durften weder Kartoffeln noch Maismehl in den Kanton Appenzell verkauft werden.

Nach dem ersten Weltkrieg führte eine grosse Arbeitslosigkeit zu weitreichenden Verdienstausfällen. Zudem brach am 12. November 1918 der Generalstreik aus. Die Eisenbahnzüge verkehrten nicht mehr, und das Militär wurde aufgeboten, um Ruhe und Ordnung in der Schweiz wieder herzustellen.

Die Inflation in Deutschland und Österreich hatte riesige Auswirkungen. In Österreich sank der Kurs der Krone von 1.05 Franken auf etwa 1 Rappen. In Deutschland sank der Wert der Mark von 1.25 Franken auf nahezu 0.

Marie Savary-Kobler betrieb ab den 1920er-Jahren einen Spezereiladen in Montlingen. In Montlingen gab es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gerade mal drei Läden: die Savary, der Konsum Konkordia und der Laden im Kreuz.

Viele konnten im Dorfladen nicht mit Geld bezahlen, sondern zahlten zum Beispiel mit Eiern. Von da kam der Ausspruch (vor allem von von Kindern, welche etwas holen mussten, aber kein Geld dabei hatten): "die Mutter kommt dann mit den Eiern vorbei"). In dieser Zeit musste auch viel "aufgeschrieben" werden.

Spätestens mit dem Aufkommen der Elektrizität und der Wasserversorgung war es mit der Bezahlung in Naturalien vorbei. Dies mag auch mit ein Grund gewesen sein, weshalb einige Haushalte bis nach Mitte den 20. Jahrhunderts noch ohne Strom und fliessend Wasser waren.

Jakob Lüchinger (der "Eier-Lüchinger") - ein Onkel von Marie Savary-Kobler - wurde in Basel sehr reich, zeigte sich aber mit Oberriet (und vor allem mit Montlingen) weiterhin sehr verbunden. Er bot armen Montlingern an, dass sie in Savary's Laden für 30 bis 50 Franken im Monat (auf seine Kosten) Ware holen können.

Bäckereien gab es in Oberriet und den verbundenen Dörfern einige.

Metzgereien hatte es in Montlingen keine. Aber es gab zwei Ablagen. Die eine war vom Metzger Ritter in Altstätten (heute an der Ringgasse 19) - der hausierte mit seinem Rosswagen und bot Wurstwaren feil. Die zweite war von Metzger Fritz Zünd von Oberriet (dieser hatte die Metzgerei 1920 von Gottlieb Gächter übernommen).

Zusätzlich gab es Lüchinger-Familien ("die Kröttlis"), welche pro Tag im Riet und später in den Kanälen bis zu 100 Frösche sammelten und Froschschenkel verkauften. Franz Wüst und seine Schwester Marie machten dies im Frühjahr schon beinahe gewerbemässig. Manche Kinder, welche für das Hüten der Tiere im Riet waren, sammelten Frösche und brieten sich (auf einem Schollen-Feuerchen) Froschschenkel.

Kleidung

Einfache Kleidung wurde selbst gefertigt. Schönere Kleidung, so wie zum Beispiel das "Sonntags-Häss" wurden beim Schneider massgefertigt. Kleider wurde nicht weggeworfen, sondern ausgebessert, "nachgetragen" und notfalls umgearbeitet.

Oberrieter Frauen waren daher gewandt mit Nadel und Faden. Max Kriemler (1922-2017) aus St. Gallen, der Ehemann von Alice Kriemler-Schoch (Gründerin der 'Akris'), wurde bei den Kriessener Frauen fündig. Im Juli 1946 wurde das Büdeli in Kriessern gegündet.

Viele hatten nur eine einzige Garnitur Wäsche. Diese wurde vor einer Föhnnacht gewaschen und dann morgens wieder angezogen. Eine "grosse Wäsche" konnte zwei Tage dauern. Am Vortag wurde eingeweicht (farbige und weisse Wäsche separat) - es gab damals nur Baumwoll- und Leinenwäsche (aus Flachs). Am zweiten Tag wurde gewaschen (mit dem Waschbrett).

Gemäss Tondokument von Marlies Pinardi-Loher (1936 - † 2015) hatte sie in der Schule Montlingen am Donnerstag jeweils frei. Da gab ihr die Mutter ein Geschirr Wäsche, so dass diese im "Kanäli" gewaschen werden konnte (auch im Winter!). Dort musste die Wäsche geschwenkt werden bis die "Soapfe" weg war.

Im Dorf gab es einige Schuhmacher, darunter auch Schuhmacher, welche "Knospen" (Oberrieter Dialekt: "Knoschpla") anfertigten (es handelt sich dabei um Schuhe, die aus Naturprodukten hergestellt werden, vorwiegend aus Leder und Holz, oder wie in Oberriet eben nur aus Holz). Kinder liefen im Sommer meist barfuss herum, im Winter aber trugen sie Holzschuhe ("Holzböden") - etwas anders gab es nicht. Die Schuhmacher machte im Herbst jeweils "frische Böden drauf". Joseph Lüchinger (1783-1850) und sein gleichnamiger Sohn in Montlingen oder Kaspar Thurnherr (1819-1893) in Oberriet waren solche Holzschuhmacher. Diese Schuhe wurden bis weit ins 20. Jahrhundert getragen.

Jakob Lüchinger zahlte armen Erstkommunikanten in Montlingen über viele Jahre das "erste Häss". Bei der Erstkommunion bekam man das erste schöne Gewand verpasst.

Medizin

Der Aberglaube war in Oberriet allgegenwärtig. In der Regel wurden bei Krankheiten "Hausmittelchen" verwendet.

Die ersten Ärzte (wie zum Beispiel der "Heiler im Hischensprung") waren mehr Zauberer und Hexer als wirkliche Mediziner.

 

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Erstellt durch Daniel Stieger (letzte Nachführung am 24. September 2024)