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Bürgereid 1798General MußEin sonniger Septembertag des Jahres 1798 neigt sich zu Ende. Auf dem Dorfplatz in Oberriet werden die letzten Vorbereitungen getroffen für den morgigen, denkwürdigen Tag. Die Bürger müssen den Eid auf die neue helvetische Einheitsverfassung schwören. Ein Freiheitsbaum ist aufgerichtet worden, der die scheinbar errungene Unabhängigkeit darstellen soll. Der helvetische Kommissar, der den Eid der Bürger entgegennehmen will, erwartet in Oberriet, wie an den meisten Orten, die flammende Begeisterung für die neuen Ideen. Ein rüstiger Sechziger strebt da eilenden Schrittes einem Hause im Oberdorf zu. Auf dem Dorfplatz hat er verächtlich ausgespuckt, und dabei halblaut vor sich hin geflucht. «Nein, den Eid schwören wir nicht! Wir haben unsere Freiheit selbst erkauft und wollen nicht wieder geknechtet sein,» murmeln seine Lippen. Es ist der alte Josef Kolb, genannt «Muß», der während langen Jahren in fremden Kriegsdiensten gestanden. Als er wieder in seine Heimat zurückgekehrt war, hatte er sich als einer der eifrigsten Kämpfer der Bewegung in der Gemeinde angeschlossen, die die Unabhängigkeit von Abt und Vogt herbeiführen wollte. Nach unendlichen Mühen und schweren Opfern war es ihnen gelungen, sich vom Abte loszukaufen, und nach langen Verhandlungen mit den Eidgenossen hatten diese dem Rheintal auch die Freiheit geschenkt. Das war im Frühling 1798 gewesen. — Die Oberrheintaler schlossen sich zu einem Staatsgefüge zusammen, das im wahrsten Sinne des Wortes eine «Volksdemokratie» genannt werden durfte. Unter dem Drucke der Franzosen, die der alten Eidgenossenschaft ein Ende gesetzt hatten, war die helvetische Einheitsverfassung ins Leben gerufen worden, auf die nun alle Eidgenossen den Eid schwören sollten. Nidwalden leistete verzweifelten Widerstand und wurde in einem blutigen Ringen niedergeworfen und zum Eid gezwungen. Das übrige Rheintal legte den Eid ohne Widerstreben ab. Aber Oberriet lehnte sich aus. Die Oberrieter wollten unabhängig sein, nicht von neuem eine Herrschaft über ihnen anerkennen, die ihre Eigenart nicht verstand. In Montlingen war «Muß» zur Seele des Widerstands geworden, und in Oberriet predigte der alte Zäch den Kampf für die Freiheit. Eine sternklare Frühherbstnacht senkt sich nieder aufs Tal. Die nahen Hügel sind leicht in einen dunstigen Nebel eingehüllt. Die Sichel des Mondes schaut verwundert auf das widerspenstige Rheintalerdorf. Mitternacht ist nahe. — Einige vermummte Gestalten schleichen auf den Dorfplatz. Mit den mitgebrachten Werkzeugen ist ihr geplantes Werk bald geschehen: der Freiheitsbaum umgehauen, die Rednertribüne zerschlagen, alle Vorbereitungen zerstört. Unter dem geheimen Kommando des alten «Muß» arbeiten sie; kein Laut ist aus ihrem Munde zu hören. Nur das schnelle Schlagen und Hämmern gibt ein hohles Echo von den umliegenden Häusern. In wenigen Minuten ist das Werk getan; die Gestalten verschwinden. Verlassen ist der Platz, den alle am morgigen Tag meiden werden. Eine geheime Kunde hat sich von Haus zu Haus getragen: «Kein Oberrieter und Montlinger schwört den Eid auf die neue Verfassung! Wehe dem, der es trotzdem tut und damit unsere Freiheit verrät!» Der alte Zäch weiß bestimmt, daß kein Oberrieter und Montlinger auf dem Platz erscheinen wird, daß keiner sich zum Verräter herabwürdigt. Es setzt dieses geheime Einverständnis voraus und ist sicher, daß er nicht enttäuscht wird. Als der helvetische Kommissar am frühen Morgen auf dem Dorfplatz die Zerstörung sieht, erfaßt ihn ein fürchterlicher Zorn. «Diese verdammten Steckgrinde sollen es mir büßen», schreit er. «Wartet nur, ich werde euch lehren, ich werde euch plagen, daß euch die Lust zu solchen Bubenstreichen vergeht.» In aller Eile wird der Baum nochmals aufgerichtet, der Platz gesäubert, damit der Eid doch abgelegt werden könne. Es ist 9 Uhr. Kein Mensch scheint im Dorfe zu leben. Es ist wie ausgestorben. Der Kommissar wartet, doch keiner der Eidespflichtigen erscheint. In ohnmächtigem Zorn besteigt er sein Pferd und jagt nach Altstätten, wo sich die Kunde des Widerstandes bereits verbreitet hat. «Und wenn sie nicht freiwillig den Eid schwören, tun sie es unter Gewalt», hatte der Kommissar gerufen, als er das Dorf verließ. * Oberriet hat den Eid verweigert! Die Anführer wissen, daß es nun auf Biegen oder Brechen geht. Sie laden alle Männer zu einer Versammlung auf den Kreuzbüchel in Montlingen ein, auf der das weitere Verhalten besprochen und festgelegt werden sollte. Wer irgendwie abkömmlich ist, erscheint an dieser Versammlung. Im zukünftigen Verhalten sind sich die meisten einig: sie werden sich mit den Waffen wehren, wenn das Dorf besetzt werden sollte. Hofammann Lüchinger verlangt als erster das Wort: «Oh, ihr einfältigen Oberrieter,» beginnt er, «es nützt doch alles nichts! Wir werden uns doch fügen müssen. Stellt euch vor, die helvetischen Truppen rücken heran. Was wollt ihr dann anfangen? Ihr seid verloren! Drum mahne ich euch, seid vernünftig, fügt euch, schwört den Eid auf die neue Verfassung, die euch ja gegenüber früher viele Rechte und Freiheiten bringt!» Hofammann Lüchinger ist der einzige, der diese Worte wagen darf zu sprechen. Er hatte während seiner Verwaltungszeit schon so viele Beweise aufrichtiger Heimatliebe abgelegt, daß er sich nicht zu fürchten braucht, als Mahner aufzutreten. Er war es gewesen, der die Verhandlungen mit dem Abte geführt hatte, er schlug sich mit den Eidgenossen auf der Tagsatzung herum, bis diese den Rheintalern die Freiheit zuerkannten. Doch dieses eine Mal hörten die Oberrieter nicht auf ihn. Der alte Zäch ist anders veranlagt. Auch er kann auf ein Leben voller Kampf für die Befreiung zurückblicken. Doch dies Mal will er aufs Ganze gehen. In seinem gewaltigen Baß schreit er: «Wir haben jahrelang für die Befreiung gekämpft. Man will uns die Unabhängigkeit schon wieder nehmen. Wir dulden das aber nicht. Wir wollen frei sein. Ein Lump an der Sache der Freiheit ist, der den Eid schwört, den Eid, mit dem wir uns verpflichten, eine unter französischer Kontrolle stehende oberste Regierung anzuerkennen. Ich bin für den Kampf. Wenn wir zusammenhalten, sind wir 400 Mann stark. Und wehe dem, der es wagen sollte, uns das Recht und die Unabhängigkeit zu nehmen.» Die Großzahl ist für den Kampf begeistert. Da erhebt sich «Muß», der alte Freiheitskrieger, und ruft: «Ich habe es wie jener König vor Belgrad. Ich weiche nicht eher, als bis mir die Rocktasche am Leibe brennt. Wir sind stark genug, einen übermächtigen Feind abzuhalten. Drum rufe ich zum Kampf. Ich werde euch führen, denn ich kenne das Kriegshandwerk!» Die Versammlung anerkennt «Muß» als ihren Anführer. In aller Eile werden die Vorbereitungen für einen bewaffneten Widerstand getroffen. Der Rötelbach wird in seiner ganzen Länge durch das Riet besetzt. In den beiden Dörfern am Rhein flackert unbändiger Freiheitsdrang, der sich in jahrhundertelanger Knechtung angesammelt hatte. Wer von den Männern noch irgendwie gehen oder kriechen kann, eilt unter die Waffen. Auch Frauen lassen es sich nicht nehmen, bei der Verteidigung von Oberriet dabei zu sein. In den ersten Morgenstunden des 7. September 1798 kommt es zum Gefecht. Die Oberrieter fahren wie lebendige Teufel in die helvetischen Truppen hinein und zwingen die erschrockenen Soldaten zum Rückzug nach Altstätten. Auf einen solchen Empfang hatten sie sich nicht vorbereitet. Sie wähnten, das Dorf im Schutze der Dunkelheit besetzen zu können und am Morgen die Einwohner zum Eide zu zwingen. Eines aber haben die Oberrieter nicht in Betracht gezogen, daß das Dorf auch auf Umwegen besetzt werden könnte. Während sie den Rötelbach immer noch besetzt halten, rücken die helvetischen Truppen über den Berg ins Dorf und besetzten die wichtigsten Gebäude. Ein kleiner Bub bringt «General Muß», wie ihn die Oberrieter nennen, die Nachricht. Eine Erschütterung geht durch den großen, starken Mann. Mit einem Aufschrei fährt er aus seinem Sattel, sinkt auf einen Feldstein und gräbt den Kopf in seine Hände. «Das erste Gefecht haben wir gewonnen, die Heimat und die Freiheit aber verloren!» Noch lebt in ihnen ein starker Glaube an den Sieg. Noch wollen sie ein zweites Mal angreifen. Aber bald müssen sie erkennen, daß alles erfolglos ist. Die Helvetier gestatten den Männern freie Heimkehr gegen Auslieferung der Anführer, so wird den Aufständischen bekanntgegeben. Keiner will auf diesen Vorschlag einsteigen. «General Muß» aber blickt nochmals auf die Schar seiner Getreuen. Dann geht er aufrechten Schrittes dem Dorf zu. Eilenden Schrittes sucht ihm der alte Zäch nachzukommen. In stummem Einverständnis blicken sich die beiden an und wissen ihren Weg, den sie gehen wollen. Einen Nachfolgenden schickt «Muß» mit der Weisung zurück: «ich habe euch im Kampfe angeführt. Wir sind besiegt worden. Ich nehme die ganze Verantwortung auf mich. Ich befehle euch, nach Hause zurückzukehren. Bleibet trotz unserer Niederlage treu der Heimat, treu unseren Sitten; bleibt gute Oberrieter und Montlinger und vergeßt nicht den alten «Muß», der nur das Beste für euch wollte.» Dann gibt er auch dem alten Zäch die Hand. «Ich nehme die Verantwortung auf mich! Du bist ein alter Mann. Du hast die größere Pflicht, im Dorf zu bleiben !» Dann geht er mit erhobenem Haupte dem Dorfplatz zu, wo er sich freiwillig dem Kommissar als alleiniger Anführer des Aufstandes meldet, und damit allen andern die freie Rückkehr in das Dorf erwirkt. Quelle: Unser Rheintal 1949 - Artikel von Guido Kolb |
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Erstellt durch Daniel Stieger (letzte Nachführung am 19. September 2020)