*** Karl Emil (Karl) Zäch ***

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Johann Wolfgang (Johann)

Zäch

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Maria Louisa (Luisa)

Zäch-Sartory

... Eltern von ...

Karl Emil (Karl)

Zäch

* Mo, 1892-12-19
† So, 1974-02-10

... verheiratet mit ...

...

 

 

Sa, 1919-06-14

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Maria Friederika (Friederika)

Zäch-Wüst

... verheiratet mit ...

...

 

 

Mi, 1950-09-27

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Lina

Zäch-Nussberger

...

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Rosa Kressig-Zäch


*** Report ***


Personalien

Name

Karl Emil (Karl) Zäch

Bürger von

Oberriet, SG

Geboren am

1892-12-19 in Kellen, Oberriet, SG

Taufe am

1892-12-30 in Oberriet, SG
Taufpate: Carl Zaech - Bruder des Vaters
Taufpatin: Johanna Sartory - Machte den Haushalt auf der Post, wo "Tante Lina" Posthalterin war.

Gestorben am

1974-02-10

Wohnort(e)

Kellen, Oberriet, SG (1892)


Eltern

Vater

Johann Wolfgang (Johann) Zäch (1861-10-31 bis 1938-10-24)

Mutter

Maria Louisa (Luisa) Zäch-Sartory (1869-08-02 bis 1925-03-18)


Partner

Ehefrau

Maria Friederika (Friederika) Zäch-Wüst (1898-05-23 bis 1950-01-18)
Hochzeit am 1919-06-14 in Oberriet, SG
Kommentar: Kirchliche Hochzeit am 16. Juni 1919 in Einsiedeln (Hochzeitsnacht im Hotel Storchen). Gemäss [KZ1972], Seite 44, fand die kirchliche Hochzeit im Juli statt.

Ehefrau

Lina Zäch-Nussberger (1899-11-29 bis 1987-01-10)
Hochzeit am 1950-09-27 in St. Gallen
Scheidung am 1963-10
Kommentar: Karl reichte nach 7jähriger Ehe die Trennungsklage ein.


Kinder

Tochter

Rosa Kressig-Zäch ()


Geboren um 2 Uhr. Getauft durch 'HH Vicar'. Anmerkung im Taufbuch: "Cop. 16. Juni 1919 in Einsiedeln mit Friederika Wüst.". Das Taufdatum und der Taufname stimmen nicht mit der Biographie von Karl Zäch (1972) nicht überein. Gemäss Seite 4 in der Biographie wurde er am 22. Januar 1893 auf den Namen 'Karl Johann' getauft. Karl war 165 cm gross, hatte mittlere Statur, braune Haare und graue Augen (Angaben aus dem Pass von 1914). Karl arbeitete im 1. Weltkrieg für die deutsche Wehrmacht (Flugzeugmotorenbau bei Daimler). Im Februar 1927 musste sich Karl im Spital Altstätten einer Kropfoperation unterziehen.

 

Karte

 

Karl Zäch

Karl Zäch wurde 1892 in der Kellen in einem Backsteinhaus nahe bei der Ziegelhütte geboren. 1898 trat Karl bei Lehrer Müller in die erste Klasse ein. Zwei mal in der Woche erteilte Kaplen Rohner ("ein etwas fader Herr") Religionsunterricht. Ab der 3. Klasse kam Karl zum (sehr strengen) Lehrer Wilhelm Kühnis. Die 5. und 6. Klasse war dann bei Lehrer Kobler. Religionsunterricht war bei Pfarrer Meier (welcher sich abschätzig über Reformierte äusserte). Die Realschule wurde bei Lehrer Bischoff (mit grossem rotem Schnauz) besucht.

Karl Zäch 1892-1974

Quelle: Biografie Karl Zäch (1972). Das Foto wurde vom Foto-Atelier Mangholz in St. Gallen erstellt.

 

Biographie Karl Zäch (Broschüre ohne Bilder)

Seite 1

Zum Geleit

von Walter Hess [* 1949], Gemeindammann, Oberriet

«Obwohl ich die Vorreden sonst hasse, muss ich doch ein Wörtchen zum voraus
sagen...» so beginnt Ulrich Bräker [1735-1798], der Näbis Ueli, seine Biografie «Lebensge-
schichte und natürliche Ebenteuer des Armen Mannes im Tockenburg» [1788]. Vielleicht
geht es dem Leser gleich wie dem Näbis Ueli und trotzdem wage ich, ein paar
Worte vorauszuschicken.

Die Biografie von Karl Zäch ist ein eindrückliches Zeugnis eines Mannes, der dem
Staunen über sein Leben und seine Existenz Ausdruck gibt - genau wie Ueli
Bräker und uns so auf unverwechselbar eigene Weise teilhaben lässt am Gesche-
hen des ausklingenden 19. und eines grossen Teils des 20. Jahrhunderts. Was da-
mals in Oberriet geschah und wie, dies kannte ich bisher ein wenig vom Studium
alter Protokolle und alter Zeitungen aus dem Archiv der Gemeinde Oberriet und
vor allem aus der Schrift «Dreissig Jahre Oberriet» von Dr. K. Dux.

Bei Karl Zäch erfahre ich anschaulicher als irgendwo sonst, wie sich damals das
Leben der Menschen in Oberriet abgespielt hat. Ähnliches kannte ich bisher nur
- wenn auch in ganz anderer Form - aus den Erzählungen von Pfarrer G[uido Johann] Kolb [* 27. März 1928 in Oberriet; † 2. Januar 2007 in Zürich]. Dies
hat mein Interesse, das Interesse eines vor 20 Jahren vom Toggenburg ins Rhein-
tal Ausgewanderten, geweckt und dann gepackt.

Karl Zäch hat eine eigenwillig derbe, aber auch spannend witzige Wirklichkeits-
freude, vor allem wenn er in seiner Erinnerung an die Tage seiner Jugend zurück-
kehrt; er erzählt farbig, treffend und mit scharfer Beobachtungsgabe.

Beim Lesen kam mir oft die eingangs zitierte Biografie von Ulrich Bräker in den
Sinn. Wie auch Ueli Bräker, der Näbis Ueli, voller Neugierde allem nachstöbert,
was sein Interesse geweckt hat, so ist auch die Lebensgeschichte von Karl Zäch
geprägt von immer neuem Tatendrang und oft auch von Fernweh.

«Es wäre da noch viel zu sehen gewesen, aber es zog uns weiter!» oder «es regte
sich aber der Wandervogel in mir aufs neue. . ..», so schreibt er selber.

Dem Herausgeber, Peter Zünd, möchte ich herzlich danken für seine grosse Ar-
beit; ich bin überzeugt, die vorliegende Broschüre tragt viel bei Zum Verständnis
der Lebens- und Arbeitsbedingungen in unserer Region in der 1. Hälfte unseres
Jahrhunderts. Gerne hoffe ich, dass viele andere Leser an jenem Vergnügen, das
ich an der Broschüre fand, auch teilhaben werden.

Seite 2

Vorwort

von Peter Zünd

«Andererseits war es noch keiner Generation beschieden, innert eines Men-
schenalters so viele technische und wissenschaftliche Fortschritte zu erleben wie
der unsrigen», schreibt Karl Zäch, das Faktotum der ehemaligen Torfstreufabrik
Oberriet, im Jahre 1972 in seiner Autobiographie.

Gewaltige Veränderungen haben sich indes auch im Geschichtsverständnis erge-
ben. Beschränkte sich das allgemeine Interesse noch vor wenigen Jahrzehnten auf
das Wirken von Potentaten und deren Machtentfaltung auf allen möglichen Ge-
bieten, so geht es heute vorwiegend um das Leben der damaligen Menschen «wie
du und ich».

Karl Zäch hat in seiner Schulzeit bestimmt die patriotischen Kriegs- und Helden-
geschichten als historischen Massstab auf den Lebensweg mitbekommen, deren
Abbilder sogar den Alltag prägten und noch prägen, wenn wir nur an die alten
Postwertzeichen und die heute noch gültigen Münzen denken.

Im Laufe seines abwechslungsreichen Lebens, wo immer wieder ein Neuanfang
fällig war, hat Karl Zach zuviel Selbstwertgefühl aufgebaut, als dass ihm die Auf-
zeichnung seiner Erlebnisse und Erfahrungen als bedeutungsloses Unterfangen
hätte erscheinen können. So Überwindet er auch sein Eingeständnis, dass es um
seine Fähigkeiten «im Schreiben ganz schlecht» stehe, und findet den Mut, sich
schriftlich zu äussern, und dies dazu immer wieder mit trockenem Humor.

Karl Zäch hat seine Biographie zur Hauptsache aus zwei Gründen niedergelegt.
Zum einen zieht er am Lebensabend persönliche Bilanz, zum andern möchte er
den nachfolgenden Generationen seiner grossen Familie deutlich machen, wie ver-
schieden die damaligen Verhältnisse von den heutigen waren. Ob er dazu an eine
möglicherweise zusätzliche Leserschaft gedacht hat?

In dieser zweiten Dimension gewinnt Karl Zächs Lebensbeschreibung historische
Bedeutung für die Region Rheintal, indem sie Schlaglichter auf die lebens- und
Arbeitsbedingungen vorab in seinem Heimatort Oberriet wirft, wie sie sich in der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts präsentierten, andererseits charakterisiert er
den hart arbeitenden Rheintaler, der vor keiner Schwierigkeit kapituliert, be-
scheiden zu leben bereit ist und sich gerne nützlich macht.

Dem aufmerksamen Leser wird wohl auffallen, dass gewisse Lebensbereiche, so
namentlich die Belange der eigenen Familie und der eigenen Persönlichkeit recht
stiefmütterlich behandelt sind. Karl Zäch beabsichtigte, gemäss der Mitteilung sei-
ner Tochter, Rosa Kressig, diesen Bereich in einem zweiten Heft zu behandeln.

Dazu ist es nicht mehr gekommen und damit erklärt sich auch das Fehlen der Da-
ten seiner Kinder und Kindeskinder.

Für die Drucklegung musste" das Manuskript gründlich überarbeitet werden.
Durch Ausmerzung von Abkürzungen, stellenweise Straffung des Satzbaus und
formale Richtigstellungen entspricht der Text nun eher dem heutigen Standard,
ohne dass die eigenwillige und bisweilen etwas knorrige Ausdrucksweise des Ver-
fassers gleichsam als Kind mit dem Bade ausgeschüttet worden wäre.

Seite 4

Karl Zäch
geboren 19. Dezember 1892
gestorben 10. Februar 1974
Sohn des Zäch Johann, Ziegeleitechniker
und der Luise, geborene Sartory
getauft am 22. Januar 1893 auf den Namen Karl Johann [diese Aussage ist falsch]
verehelicht mit Maria Friederika Wüst, geboren am 23. Mai 1898, gestorben am 18. Januar 1950
mit Lina Nussberger, geboren am 29. November 1899, gestorben am 10. Januar 1987

Gotte Sartory Johanna [vermutlich eine Schwester der Mutter]
Götti Zäch Karl, Bruder des Vaters

Geschwister Hermann geboren 1894, gestorben 1959
Hans geboren 1896, gestorben 1903 [auch das scheint nicht so wirklich zu stimmen]
Lisa geboren 1900 [knapp daneben geraten], gestorben 1927
Hans II geboren 1907, gestorben 1976

Seite 5

Kinderjahre

Elternhaus

Am 19. 12. 1892 wurde ich als ältestes von vier Geschwistern in unserem Haus in
der «Kellen» geboren.

Mein Vater war technischer Leiter der Ziegelei Gebrüder Zäch. Unser Haus, das
mein Vater hatte bauen lassen, war ein Backsteinhaus, wie es sich für einen echten
Ziegler gebührt, und stand ganz nahe bei der Ziegelhütte, wie man die Ziegelfa-
brik nannte. Die Schar der Männer, die dort arbeiteten, waren eben die «Hüttler»
genannt. Die Hütte stand am Fusse des Berges, an der Strasse nach Kobelwald.

Südlich und östlich unseres Hauses lag der grosse Garten. Jeweilen im Frühling
kam ein alter Mann, um die schwere Gartenarbeit zu verrichten. Seinen Namen
kannte, glaube ich, niemand, er wurde nur der «Babadudel» genannt, jedenfalls
wegen seiner sonderbaren Sprache, von welcher wir Kinder kein Wort verstanden.

Er sei viele Jahre in der französischen Fremdenlegion gewesen und bekomme von
Frankreich her eine Pension bezahlt. Ein Sonderling, aber seine Arbeit machte er
offenbar recht, sonst wäre er nicht jeden Frühling unser Gärtner gewesen.

Den Sommer hindurch gärtnerte dann die Mutter, und das Ernten der Pfirsiche
und der Birnen besorgten wir Buben ohne jegliche Anleitung.

Tagsüber bot die Hütte und deren Umgebung für uns Buben eine Unmenge Se-
henswürdigkeiten, ebenso Grossvaters grosse Landwirtschaft. Da war dauernd et-
was zu sehen, was für uns neu war.

Früh wurden wir aber auch angehalten, kleinere Arbeiten zu machen wie Schuhe
putzen, Stiegen wichsen, abtrocknen, posten usw.

Weil der Weg zum Posten eben weit war und uns Buben nicht zugemutet werden
konnte, all’ die Waren in einem Korbe heimzutragen, liess Vater beim «Stroh», ei-
nem alten Sonderling, der sich mit Korb?echten und Besenbinden schlecht und
recht durchbrachte, ein unserer Grosse entsprechendes «Kratzli» machen. Auf
diese Weise war es dann ein leichtes, Brot und Fleisch und Ladenware heimzutra-
gen. Das nötige Geld legte die Mutter in ein Portemonnaie und auch in das
«Kratzli», immer mit der Mahnung, es ja nicht zu verlieren; trotz aller Mahnungen
ging es halt doch zwei oder dreimal verloren, wir gingen eben nicht immer schon
brav dem Wege nach, sondern oft über Graben und Hage. Da Schelten und
Schläge keine nachhaltige Wirkung hatten, liess der Vater beim Sattler Büchel ei-
nen Deckel auf unser «Krätzli» machen und somit war ein Herausfallen des
Geldtäschchens verunmöglicht und zudem blieben die Waren noch gegen Regen
geschützt.

Als wir einmal auf so einer Einkaufstour waren, hat uns Herr Dr. Anderwert pho-
tographiert und dann das Bild dem Vater geschickt. Hinten darauf stand ge-
schrieben: «Ja so zwei, wie die zwei, gibt es nicht so bald wieder zwei». - Schade,
dass jenes Bild nirgends mehr zu finden ist.

Aber trotz dieser kleinen Arbeiten blieb uns Buben noch viel Zeit für Spiele und
Streifzüge übrig. Bei schönem Wetter zogen wir dann aus. Hinter der Hütte be-
gann, wie schon erwähnt, der Berg; da waren zwei Steinbrüche, in denen die Steine
für die Kalkofen gesprengt und zerkleinert wurden. Hier sahen wir stundenlang
zu, wie der «Benz» mit zwei Gehilfen Löcher in den Felsen bohrte, diese mit Pul-
ver und Zündschnüren versahen und, nachdem alle in Deckung gegangen waren,
zündete. Mit Krach und grossem Gepolter fielen dann grosse Mengen Felsbrocken
herab, die mit Hämmern zu gut faustgrossen Brocken zerkleinert wurden. Dabei
kamen hie und da Versteinerungen wie Blätter, Muscheln und Schnecken zu Tage,
auch Meteorkugeln. Allerdings hätten wir, wenn wir nicht von «Benz» aufmerk-
sam gemacht worden waren, solche Sachen kaum gesehen.

Seite 6

Hier herum war es auch, wo die ersten Schneeglöckchen zu finden waren und spä-
ter wohlriechende Veilchen und Schlüsselblümchen, dann im Sommer Türken-
bund, Seidelbast, wilde Nelken, usw. Zuweilen brachten wir ein Sträusschen sol-
cher Blumen heim, zur Freude der Eltern, die es gerne sahen, dass wir mit offenen
Augen durch die Welt gingen und Freude an der Natur bekundeten.

Einmal allerdings war der Schrecken gross. Wir brachten einen Strauss Tollkir-
schen heim; da mussten wir schon zweimal versichern, dass wir keine dieser kir-
schenähnlichen Beeren gegessen hatten. Der Vater holte aus dem Büro einen
Band des Brockhaus, in dem die Tollkirsche beschrieben und auch abgebildet war.
Bei dieser Gelegenheit wurden wir auf diese und auch noch andere Giftpflanzen
aufmerksam gemacht und gleichzeitig auch noch auf die giftigen Schlangen. Auf
diese Weise sahen wir, dass im Leben nicht alles eitel Freude ist und man sich
darnach einzustellen hat.

Offenbar froh darüber, dass die Sache mit den Tollkirschen so gut abgelaufen war,
zeigte er uns dann noch den blechernen Seehund, den man aufziehen konnte und
der dann auf dem Boden herumfuhr, in unseren Augen halt ein Wunderwerk. Auch
die Musikdose kam bei dieser Gelegenheit wieder einmal an die Luft und spielte
uns ihre vier Lieder vor. Dass mich deren Mechanik mehr interessierte als die Mu-
sik, wird man mir glauben.

Post Oberriet

Jeweilen im Herbst durfte ich, weil noch zu klein, um beim Grossvater als Hüter-
bub verdingt zu werden, zu Tante Lina auf die Post in die Ferien gehen. Dort
wohnte meine Gotte, die Tante Johanna [Sartory], die den Haushalt führte und nebenbei
noch Waagmeisterin für die Brückenwaage war. Tante Lina war Posthalterin in
Oberriet. Auf ihrem Büro gab es viel Neues zu sehen; da war z. B. ein Telegra-
phenapparat, der auf einem ganz schmalen Papierstreifen lauter Punkte und Stri-
che druckte, aus denen Tante Lina das Telegramm herauslesen konnte. Da kam es
hie und da vor, dass so ein Telegramm ausgetragen werden musste, was ich gerne
besorgte, gab es doch eine Zustellgebühr zu kassieren, die ich für mich behalten
konnte. Weiter war da die Telephonstation, die etwa 1895 in Oberriet eingeführt
worden war. Ich erinnere mich auch noch gut, wie der Vater einmal bei Tisch er-
klarte, dass sich mindestens zehn Personen oder Firmen verp?ichten mussten, ein
Abonnement für einen Telephonanschluss zu garantieren, dass Oberriet über-
haupt eine Station bekommen werde. Der Apparat im Postbüro wurde von Hand
bedient. Wenn ein Abonnent anrief, fiel eine Klappe, und die bedienende Person
fragte nach der gewünschten Nummer, die dann mittels Stöpsel verbunden wurde.
Wenn dann das Gespräch beendet war, fiel wieder eine Klappe herab, und die Te-
lephonistin unterbrach die Verbindung. «Nummer bitte!» und. «Fertig - fertig.»
tönte es hundertmal pro Tag. Um die ganze Anlage und die vielen Batterien in-
stand zu halten, war oft ein Angestellter da. Es war ein Herr Waker, in meinen Au-
gen ein ganz grosser Künstler.

Weil das Telephon von morgens früh bis abends spät bedient werden musste, hatte
Tante Lina immer Angestellte und Lehrtöchter. Abends durfte ich mit Frl. Wyrsch
mit dem Postkarren zum Bahnhof fahren, um dort die Säcke und Pakete der Bahn-
post zu übergeben und die ankommenden Sachen abzuholen. Die damaligen
Bahnpostwagen hatten einen Laufgang um den ganzen Wagen herum, mit einem
Geländer und «Türli». Während dem Ein- und Ausladen fuhr meistens der Ge-
genzug ein auf dem anderen Geleise. Das war eine kritische Lage, so zwischen zwei
Zügen zu stehen, aber ich sagte mir, wenn Frl. Wyrsch es riskiert, tu ich es eben
auch, und es ist nie etwas passiert.

Daheim in der Stube stand ein Klavier, auf dem Vetter Müller oder die Gotte hie
und da spielten. Mir imponierte der drehbare Klavierstuhl am ehesten, konnt man

Seite 7

doch darauf so schön Karussell fahren. Karl und Berti waren die Kinder der Fa-
milie Müller, fast gleich alt wie ich; das waren meine Spielgefährten. Noch etwas
Neues fiel mir auf:

Nachtwächter

Nachts rief ein Nachtwächter mit einem eintönigen Gesang die Stunden aus, den
Text seines Gesanges habe ich zwar nie recht verstanden.

Nahe der Post stand damals auch noch die Brennerei; da war ich oft zu Besuch,
und die Kresenz, wie die Brennerin hiess, erklärte mir, wie aus Obsttrester Schnaps
entstehe.

Strassenbeleuchtung

Ebenfalls nahe der Post wohnten meine zwei Schulkameraden: Karl Lüchinger,
der später Bezirksammann wurde und 1967 [1965?] in Altstätten [im Spital?] gestorben ist, und Max
Kolb, der heute in Obersteinach als pensionierter Saurer-Monteur seine alten Tage
verbringt. Max war der Sohn von Schlossermeister Kolb und hatte unter anderem
die Aufgabe, die damals einzige Strassenlaterne, bei der Abzweigung in die Bahn-
hofstrasse, zu besorgen. Am Spritzenhaus hatte er ein «Leiterli» über welches er
zur Laterne hinauf gelangte, die Lampe herausnahm, um diese in der nahen
Schlosserwerkstatt zu reinigen und aufzufüllen. Angezündet brachte er sie wieder
an ihren Platz, und dies jeden Abend, Sommer und Winter. Diese «Arbeit» be-
lohnten wir, Karl Lüchinger und ich, einmal auf sehr gemeine Art. An einem sehr
dunklen Abend strichen wir das angestellte Leiterchen während Maxens Abwe-
senheit mit Kuhmist an und versteckten uns hinter dem Spritzenhäuschen. Max
kam mit seiner Lampe, stieg auf die Leiter, bemerkte natürlich sofort die Schmie-
rerei und begann zu schimpfen. Die Übeltater zu suchen wäre wegen der Dun-
kelheit aussichtslos gewesen, und es blieb bei schweren Drohungen. Es blieb bis
heute ein Geheimnis, aber ich nehme mir jetzt vor, bei einem nächstem Besuch bei
Max, ihm die Sache zu gestehen.

Dampfmaschine

Wenn dann der Herbst vorbei war, zog ich wieder heim in die Kellen. Bei schlech-
tem Wetter kam man da nie in Verlegenheit, man ging einfach in die Hütte, da war
man ja unter Dach, und zu sehen gab es hier immer etwas Neues. Da waren allem
voraus die grosse Dampfmaschine und gleich daneben der Dampfkessel in zwei
riesigen Räumen untergebracht. Das Maschinenhaus, das Kesselhaus und dazu
noch der Kohlenschacht, der einige Waggons Steinkohle aufnehmen konnte, wa-
ren das Reich des Maschinenmeisters und Heizers, «Emil» mit Namen. Dieser
Mann war neben dem Vater und dem lieben Gott so ziemlich das höchste Wesen
in meinen Augen. Wie bewunderte ich ihn, wenn er zerkleinerte Kohlen in die zwei
Feuerschlünde hineinwarf und zwar so, dass sie auf das ganze Feuer verteilt wur-
den. Von Zeit zu Zeit mussten dann diese zwei Feuer gereinigt werden, d. h. die
entstandenen Schlacken mussten mittels schweren Stangen herausgezogen wer-
den, eine strenge Arbeit, und dazu kam die grosse Hitze.

Dann hatte er den Wasserstand im Kessel zu kontrollieren und wenn nötig, nach-
zufüllen. An einem grossen Manometer war ersichtlich, wie es mit dem Dampf-
druck bestellt war, der durch Verstellen des Kammzuges reguliert werden konnte.
Zu Beginn der Arbeit hatte Emil die Dampfpfeife zu betätigen, und hernach die
Maschine anlaufen zu lassen, indem er langsam das Ventil auftrieb, so dass die
schwere Maschine unter lautem Stöhnen zu drehen begann, um bald darauf voll
zu laufen. Mittels des breiten Lederriemens wurde die Kraft auf die Transmis-
sion übertragen, und von dieser aus wurden die vielen Maschinen angetrieben, die
es braucht, um Ziegel herstellen zu können.

Seite 8

Ein Regulator bewirkte eine stets gleichbleibende Tourenzahl. Jeweils im Herbst
wurde der Betrieb eingestellt; im Winter wurden alle Maschinen revidiert und in-
standgestellt, aus dem Dampfkessel wurde das Wasser abgelassen und nachher das
sogenannte Mannsloch geöffnet, durch das man dann in das Innere des Kessels
kriechen konnte, um den während der Saison entstandenen Kesselstein abzu-
klopfen. Unnötig zu sagen, dass ich da natürlich auch dabei sein musste. Es gab ei-
nen Heidenlärm, wenn so drei bis vier Mann mit Hämmern die Kalkschicht ab-
klopften. Ein weiterer Anziehungspunkt für mich waren die Reparaturwerkstät-
ten.

Mechaniker Sepp

Da wirkte ein Universalgenie, «Sepp» geheissen; er besorgte sämtliche Reparatu-
ren an Maschinen und Werkzeugen. Ihm zur Verfügung stand da die Schmiede,
enthaltend Esse und Amboss, Bohrmaschine, Schraubstock und was es eben alles
brauchte. Daneben lag auch eine Werkstatt für Holzbearbeitung, mit Fräse,
Bandsäge, Hobelbank und einer Unmenge Werkzeuge. Hier machte Sepp alle
Schaufelstiele, reparierte alle die vielen Fuhrwagen und sämtliche Karretten und
Transportbennen. Riss irgendwo ein Treibriemen, war «Sepp» derjenige, der ihn
wieder nähte oder leimte und wieder auflegte. In so einem grossen Betrieb gibt es
dauerend etwas zu reparieren. Hauptsächlich während dem Stillstand im Winter
hatte «Sepp» alle Hände voll zu tun, bis alle Maschinen instandgestellt waren, da-
mit im Frühling wieder alles klappte.

Hunderte von Stunden stand ich hier dem Sepp «unter den Füssen», wie man so
sagt wenn man immer zuvorderst stehen will und somit im Wege steht. Hier war
es, wo ich mich entschloss, Mechaniker zu werden. Vorher glaubte ich immer, Gärt-
ner wäre ein Beruf für mich. Bei Sepp habe ich sehr viel gelernt, er hat mir auch
immer geduldig Auskunft gegeben auf meine vielen Fragen. Vieles, was ich damals
gesehen und gelernt habe, hat heute noch Gültigkeit.

Seite 9

Ziegeleibetrieb

Wichtig ist in einer Ziegelei der Brennofen. Stundenlang sah ich dort den Einset-
zern zu, wie sie die getrockneten Ziegel im Ofen kunstgerecht aufschichteten, so
dass der Platz zwar bestmöglichst ausgenützt war und das Feuer dennoch gut
vorrücken konnte. Einige Schritte davon arbeiteten die Auszieher, welche die ge-
brannten, oft noch sehr heissen Ziegel auf Karren luden, um sie dann entweder auf
Fuhrwagen zu laden oder auf die Stapel zu führen. Oben auf dem Ofen war das
Reich der Ziegelbrenner. Zwei Männer, die in je zwölfstündigen Schichten, Tag
und Nacht, sonntags wie werktags, das Feuer zu unterhalten hatten, d. h. alle zwan-
zig Minuten Grieskohlen nachschütten mussten. Mit geübtem Blick beurteilten sie
die herrschende Hitze und schütteten entsprechend mehr oder weniger Kohlen
nach. Des weiteren hatten sie die «Züge» (Rauchventile) zu bedienen, um (dem
Feuer Vortrieb zu geben. Bei diesen Brennern war ich oft zu Gast, beide hiessen
Johann und waren schweigsame Männer. Oft war ich auf dem «Hof»; das war der
Platz wo die Ziegel auf Fuhrwagen geladen wurden, um entweder zum Bahnhof
oder in der Umgebung zu Bauplätzen geführt zu werden. Den Fuhrbetrieb be-
sorgte mein Götti; er hatte zwei Paar Fuhrpferde und einen Knecht. Wenn viel zu
fahren war, stellte er noch andere Fuhrleute ein.

Auf die Bauplätze fuhr man bis ins Appenzellerland und bis ins Toggenburg, dies
waren dann Fuhren, die einen ganzen Tag beanspruchten, und oft kam der Götti
schlafend heim; die Pferde wussten ja den Weg, und Autos gab es damals noch
keine. Auf diesem «Hof» kam es dann hie und da vor, dass mich der Götti einlud
mitzufahren, aber vorher schickte er mich noch heim zur Mutter, um mich abzu-
melden. Eine vorgängige Reinigung war Bedingung der Mutter, und ein sauberes
«Blüsli» musste ich auch noch anziehen. Bei so einer Fahrt ging es dann in gemäch-
lichem Tempo durch die Gegend, dem Ort der Bestimmung zu. Man hatte Zeit,
sich über alles, was am Wege zu sehen war, zu unterhalten und unversehens war
man auf dem Bauplatz, wo abgeladen und der Empfang der Ziegel vom Meister
oder vom Polier bestätigt wurde. Dann ging es den gleichen Weg zurück, dabei kam
es vor, dass die Pferde ohne für mich ersichtlichen Grund gegen einen Platz ab-
schwenkten, wo im Herweg, auch ohne ersichtlichen Grund, lustig mit der Peitsche
geknallt worden war. Alsbald wurden die Pferde angebunden, die Futterkripppe
herbeigetragen und die mitgeführte «Miet» (Hafer und Kurzfutter) hineinge-
schüttet. Vorerst war für die Tiere gesorgt. Wir selbst betraten dann die Wirtschaft,
wurden freundlich begrüsst und nach unseren Wünschen gefragt. Götti bestellte
für sich einen Dreier und für mich eine Limonade. Dann gab es noch ein Fünf-
rappenbrötli, so gross wie eine Männerfaust, oder gar noch einen Biber?aden, der
dann allerdings oft so hart war wie die Ziegel, die wir vorher abgeladen hatten. Sol-
che Fahrten waren Glückstage für mich, lernte man doch Leute der Umgebung
kennen.

Der Ziegelei angegliedert war auch eine Kalkbrennerei, wo Kalksteine und Grob-
koks in einem bestimmten Verhältnis eingesetzt wurden. Diese Schachtöfen wur-
den von unten mit Holzfeuer angezündet, die dann unten nach oben vorwärts
brannten: Durch die Glut wurde die Kalksäure ausgetrieben und nach dem Er-
kalten - der ganze Vorgang dauerte etwa eine Woche - blieb dann eben der Stuck-
kalk, der unten herausgezogen und in die Kalkfässer gefüllt wurde. Diese wurden
mit einem Deckel verschlossen und mit den Ziegelfuhren auf die Baustellen ge-
bracht, wo er mit Wasser gelöscht und mit Sand gemischt, den Mörtel für die Mau-
rer bildete. Zement war damals noch wenig bekannt.

Für uns Buben war die Hütte schon ein Tummelplatz, wie er idealer nicht zu den-
Ken ist. In den ausgedehnten Schöpfen und Gängen spielten wir «Fangis» oder
«Versteckis». Bei der grossen Zahl von Maschinen, Transmissionen, Treibriemen,
Aufzügen, usw. ist es kein Wunder, wenn bei unserer Neugier, Waghalsigkeit und

Seite 10

Unbekümmertheit oft kleinere Unfälle passierten, und es musste da ein Schutzen-
gel in der Grösse eines Elefanten gewaltet haben, dass nie etwas Schweres pas-
sierte.

Oft standen uns die Haare zu Berge, wenn wir von Erwachsenen darauf aufmerk-
sam gemacht wurden, was alles hätte passieren können … ja wenn!

Es war eine goldene Zeit und ich danke dem Schicksal, dass mir all dies heute noch
so frisch in Erinnerung ist, als ob es erst gestern gewesen wäre.

Mit vorstehendem soll es aber sein Bewenden haben, das Leben ging weiter,
und es begann die Schulzeit.

Seite 11

Schuljahre

Schuleintritt

Im Frühjahr 1898 begann ein neuer Lebensabschnitt: die Schulzeit. Schon an der
vorhergehenden Weihnacht brachte das Christkind in weiser Vorsorge einen
Schultornister mit Inhalt. Eines schönen Tages nahm mich der Vater mit ins Dorf,
Richtung Schulhaus. Vetter Müller, der Lehrer, war schon da und auch schon eine
Anzahl Mädchen und Buben, zu denen ich gewiesen wurde. Der Vater verab-
schiedete sich vom Lehrer und überliess mich einfach dem Schicksal. Es kamen
dann noch mehr Kinder, meist in Begleitung von einem Erwachsenen.

Als alle beisammen waren, wurden wir in die Bänke gewiesen, auf der einen Seite
die Buben und auf der anderen Seite die Mädchen. Ich muss schon sagen, ich war
gar nicht begeistert von dieser Schule und kam mir vor wie ein Füchslein in der
Falle. Nach einem Gebet wurde still sitzen geübt, was, wie sich bald herausstellte,
höchst notwendig war, gab es doch noch andere, die sich gleich mir, in ihrer Frei-
heit beengt fühlten und sich eben nicht sofort an die neuen Verhältnisse gewöh-
nen konnten oder wollten.

Lehrer Müller

Vetter Müller verstand es aber, uns mit erzählen zu fesseln, so dass bald ein ge-
ordneter Unterricht möglich wurde. Nach und nach begann man auf der Schiefer-
tafel Striche zu üben, feine und dicke, auf und ab. Striche eben die Grundlage zum
Schreiben. Man wurde sich der Wohltat der Pausen bewusst, und bald war man an
alles gewöhnt. Die Schulstunden dauerten von acht bis elf und von ein bis vier Uhr.
Donnerstagnachmittag war frei. Zweimal in der Woche erteilte Kaplan Rohner,
ein etwas fader Herr, Religionsunterricht.

Während einer Unterrichtssunde hörte man eines Tages von aussen herein ein
starkes Rumpeln und Zischen, das immer näher kam. Da stürzte sich die ganze
Klasse an die Fenster. Man konnte nun sehen, dass auf einem grossen Wagen ein
Dampfkessel stand und eine Dampfmaschine zischte. Am Mittag erzählte dann
der Vater, dass ein Herr Köchle von Nofels so einen Dampfwagen erstellt habe
und damit auf einer Probefahrt gewesen sei. Ich dachte, wenn nur dieses Nofels
nicht so weit weg wäre, dass man dieses Unikum einmal genau ansehen könnte.

Der Weg zur Schule und hauptsächlich der Weg von der Schule nach Hause war
je nach Jahreszeit und je nach Wetter unterschiedlich lang. Er führte über zwei
Bäche: Über den Dorfbach wölbte sich eine Brücke aus Stein, er hatte oft ganz we-
nig Wasser, sodass wir uns im feinen Sand tummeln konnten. Wenn nur noch in
den tiefen Stellen Wasser war, konnte man eine Art Fische beobachten, die aus ei-
nem grossen Kopf mit einem Schwanz daran bestanden und «Groppen» geheissen
wurden. Auch Muscheln gab es nicht selten.

Über den Rietlibach führte ein eiserner Steg. Der Bach führte immer Wasser, und
in diesem tummelten sich auch richtige Fische. Wenn man seinem Lauf entge-
genschlich, konnte man oft Wildenten beobachten oder etwa eine Wassernatter
sich über das Wasser schlängeln sehen; auch Eisvögel und allerlei anderes Getier
kamen vor. Also kein Wunder, wenn der Schulweg oft lange ward.

Im Winter froren dann die Bäche zu, dass es die schönsten Eisbahnen gab. Ir-
gendwie kaufte oder tauschte man primitive Schlittschuhe, um damit oft kilome-
terweit in allen Bächen und Gräben herumfahren zu können.

Durch das oft ganz glasklare Eis konnte man dann Fische und allerlei Getier
beobachten, das trotz der Kälte herumschwamm oder -kroch. An den Ufern im
Schnee wurden Fährten von allerlei Wild sichtbar, und man konnte sich Stellen
merken, wo dann im Frühling etwa ein Bau oder ein Nest zu finden sein werde.

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Selbstverständlich wollten auch die «Meitlen» sich auf der Eisbahn tummeln, was
die Sache dann eben noch interessanter machte.

Auf Weihnachten erhielt ich einmal ein Paar Schlittschuhe, die besser konstruiert
waren: Mit Kipphebeln konnte man sie an die Schuhe festmachen, waren somit
schnell an- oder abgelegt.

Wir wohnten an der Strasse gegen Kobelwald. Auf ihr wurde dann das Blockholz
vom Berge her auf Blockschlitten zur Säge geschleift. wurde gab es dann eine
sehr gute Schlittelbahn, die wir natürlich rege benutzten. Dabei ging es oft nur zu
schnell, dass Stürze passierten; es war eben damals schon wie heute, es konnte nicht
schnell genug gehen. Skis gab es bei uns noch keine, und Eishokey war ebenso un-
bekannt.

Dafür kannten wir Schneehütten und Schneemänner, in unseren Augen wahre
Kunstwerke.

In schneereichen Wintern kam es vor, dass morgens der Vater vorauslief, damit wir
mit unseren kurzen Beinen in seiner Spur folgen konnten, um überhaupt durch-
zukommen. Der von Pferden gezogene Pfadschlitten musste eben zuerst die
Hauptstrassen räumen. Wenn es dann gar «strub» war, konnten wir bei Tante Ro-
salie, die beim Schulhaus wohnte, zu Mittag essen, damit wir wenigstens über Mit-
tag den weiten Schulweg nicht zu gehen brauchten.

Wenn dann der Winter zu weichen begann, der Frühling einzog, kam die Zeit
des Barfusslaufens, was nicht so einfach zu beschreiben ist; das muss erlebt und erlernt
sein. Gar viele Gefahren lauern in Stumpen-Löchern, und zerschlagene Zehen
sind schmerzhaft.

Allerdings gibt es bald solide Sohlen, fast wie Leder, aber unter den Zehen bleibt
man halt doch empfindlich. Wenn dann der Herbst kam, war da kein Baum in der
Umgebung, von dem man nicht wusste, was er trug, wo die ersten und die besten
Äpfel und Birnen lockten. Da war z.B. hinter dem Hause eines alten Sonderlings,
«Sternenwirts Emil» geheissen, ein Baum mit Jakober-Äpfeln, ganz frühe und sehr
gute, das wusste natürlich der Emil auch, deshalb hatte er eben ein Auge auf uns!
Hier war nur mit List etwas zu machen. Zwei von uns mussten vor dem Hause den
Emil rufen, ihn mit etwas fragen und reden hinhalten; unterdessen ging hinter
dem Hause die Obsternte los und mit dem Ertrag ein Querfeldein-Lauf, der sich sehen
lassen durfte. Einfacher war die Sache beim Grossvater. Da waren einige Bäume
vom Hause aus gar nicht zu sehen, somit war das Äpfelholen eine einfache Sache,
etwas Reizloses.

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In der Felswand

Hinter den Kalköfen ragte eine hohe Felswand empor, ob welcher ein wilder
Kirschbaum wuchs, schräg über den Rand hinaus. Wilde Kirschen sind schöne
Früchte, bestehen aber in der Hauptsache aus einem Kirschstein, mit einer schö-
nen, roten Haut überzogen. Immer wurden diese Kirschen beobachtet, und sobald
sie rot waren, ging das Wagnis los. Der Baum war gut in der Erde verwurzelt und
hatte einen starken Stamm und solide Äste, aber die Kirschen sind eben nicht an
den Ästen, sondern an den Zweigen. Um an diese zu gelangen, musste man es halt
wagen, weit über die hohe Felswand hinaus zu klettern, auf den dünnen Ästen; mit
einer Dummheit und Frechheit, wie sie eben nur so Buben haben, gelangte ich halt
doch zu diesen Früchten. Damit sie etwas hergaben, verschlang man sie eben mit
den Steinen.

Genau unter diesem Kirschbaum an der Felswandel oben hatte ich schon lange das
Nest eines Weih' entdeckt (kleiner Greifvogel). Dieses dieses zog mich an wie ein Ma-
gnet, und an einem Sonntag, wo niemand zugegen war, kletterte ich an der Fels-
wand hinauf. Jedes «Simsli» und jeder Spalt wurde benutzt, und nach langem Su-
chen und Probieren kam ich so hoch, dass ich das Nest hinunterwerfen konnte.

Nun, die Heldentat war vollbracht, und es begann der Rückzug, aber oha, das war
nun anders als der Aufstieg, und bald musste ich einsehen, dass es einfach nichr
mehr weiter ging. Alles Probieren und Suchen nützten nichts, ich war gefangen und
dazu noch an einer Stelle, wo ich nicht lange ausharren, und mich nur noch mit Ze-
hen und Fingern halten konnte.

Da kam nun die Reue, aber selbst an der aufrichtigsten Reue kann man nicht ab-
steigen. In meiner Not fiel mir ein, dass mich vielleicht ein Ziegelbrenner hören
könnte, und ich begann zu schreien. Und richtig kam Johann, der Brenner, und so-
mit die Rettung. Er rief mir zu, ich solle mich noch halten, er hole eine Leiter, Als
er diese anlehnte, war sie zu kurz; mit aller Kraft schob er dann einen grossen
Brückenwagen herbei und stellte die Leiter darauf. So war sie gerade knapp lang
genug; ich war gerettet. Ich hätte es nicht mehr lange aushalten können und zit-
terte noch lange vor Anstrengung. Ich musste noch einiges hören von Johann, wie
«Schnudernasli» und man sollte es dem Vater sagen. Nun, er versorgte die Leiter
und schob den Wagen wieder unter Dach. Ich aber verzog mich zu den «Küngeln»
und hatte ein paar Tage ein schlechtes Gewissen, aber es geschah nichts. Johann
hatte offenbar von einer Anklage abgesehen. Gott hab' ihn selig!

Etwa 1902 wurde in Oberriet das elektrische Licht eingeführt, somit auch in der
Ziegelei und bei uns zu Hause. An die Stelle der Dampfmaschine kamen zwei
Elektromotoren zu je 50 PS. Diese wurden von BBC in Baden geliefert und ka-
men in zwei grossen Kisten an. Ich verstand es, dem Vater eine der grossen Kisten
abzubetteln, um einen Kaninchenstall daraus zu machen. In einer geschützten Ecke
hinter dem Hause wurde die Kiste aufgestellt. Sepp, der Schmied, half mir
mit Rat und Tat, und es entstand ein Stall, wie er seinesgleichen nicht hatte. Wo ich
die ersten Hasen her hatte, weiss ich nicht mehr, aber das weiss ich noch: dass bald
mehr Hasen herumsprangen, als mir lieb war. Ich sah ein, dass die Geschlechter-
trennung eingeführt werden musste; auch Kaninchenzucht muss gelernt sein. Ich
habe mit meinen Hasen viel Freude gehabt und viele Stunden lag ich bei ihnen im
Stall und las Karl May und Robinson mit mehr Interesse als Schulbuch und Bibel.

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Lehrer Kühnis

Nach dem zweiten Schuljahr kam ich zu Lehrer Wilhelm Kühnis; er war immer als
sehr strenger Lehrer bekannt, ich konnte mich aber nicht beklagen, waren wir
doch offensichtlich zufrieden miteinander. Er betrieb neben dem Lehramt noch
eine Landwirtschaft, oder war es gar umgekehrt?

Ausserdem war er noch Verwalter der Sparkasse Oberriet, also ein vielbeschäf-
tigter Mann. Wenn es dann, was nicht allzuoft vorkam, ein paar Franken auf mein
Sparbüchli einzuzahlen gab, wurde ich wie ein Kunde der Bank behandelt, und es
reute ihn nicht, mir etwa einen Apfel oder eine Birne zuzustecken. Als lästig im
Schulbetrieb fand ich die zweimal im Jahr ausgestellten Zeugnisse, die ja vom Va-
ter unterschrieben werden mussten. Wenn dann unter der Rubrik «Fleiss» nicht
einmal lauter Einser waren, geschweige denn unter Rubrik «Leistung», gab es halt
Vorwürfe und Ausdrücke wie Faulheit, Gleichgültigkeit und derlei Schlagwörter.
Nun, auch solches ging vorüber, und die «Büechli» lagen wieder für ein Halbjahr
beim Lehrer. Turnen war nicht beliebt bei Lehrer Kühnis, da machte er lieber ei-
nen Ausflug mit uns übers Feld. Bei solcher Gelegenheit lehrte er uns z.B. eine
Tanne von einem Kirschbaum zu unterscheiden oder zeigte uns, wie man Korn,
Weizen, Gerste oder Hafer erkennen kann.

Mit feiner Ironie erklärte er uns beim Anblick einer mageren Wiese, welches das
beste Zeichen sei zum Mistanlegen: «Am zweiten Tag Widder».

Wenn alle Glücksfälle zusammentrafen, wurde im Sommer ein Schulausflug be-
willigt, etwa nach Ragaz, dem Hohen Kasten, nach Rorschach oder zum Fünflän-
derblick. Da das Geld damals rar war, mussten wir oft grosse Strecken zu Fuss ge-
hen. Bahn und Verpflegung belasteten die Reisekasse, und die Lehrer nebst den
Begleitpersonen wollten eben auch leben. Anderntags war dann ein Aufsatz über
den Spaziergang fällig, was immer einiges Kopfzerbrechen gab. Wohl hatte man
vieles erlebt, aber wie es in Worte fassen, dass es einen Aufsatz ergab, das war das
Schwierige.

Lehrer Kobler

Die fünfte und die sechste Klasse führte Lehrer Kobler. Ich habe mich auch in die-
sen zwei Jahren schlecht und recht durchgeschlängelt, ich ging eben nie gerne in
die Schule, was sich dann bei den Noten unangenehm bemerkbar machte. Der
Lehrer peitschte sein Programm durch, so gut es ging; in beiden Klassen hatte es
gut und gerne 80 Schüler, natürlich nicht lauter gute. Zwischendurch sammelte und
handelte er noch Altertümer und lutschte gerne Feuersteine, wie man den Bon-
bons damals sagte. Religionsunterricht erteilte in den oberen Klassen Herr Pfar-
rer Meier. Er hatte eine Vorliebe für Schnupftabak, von dem er beträchtliche Men-
gen verbrauchte. Es ist mir damals aufgefallen, dass, wenn der Religionsunterricht
begann, einige Kinder die Klasse verliessen. Sie waren von protestantischen El-
tern, was den Pfarrer oft zu abschätzigen Worten verleitete. Toleranz war ihm of-
fenbar fremd.

Geschwister

Wir hatten noch einen dritten Bruder, Hans mit Namen. Er war nicht so robust
wie Hermann und ich und litt an Gliedersucht, wie man damals sagte. Der Arzt
verordnete Salben, um die schmerzenden Stellen einzureiben. Wohl verschwanden
sie dann, aber um an einer anderen Stelle wieder aufzutreten. So trieb sein Leiden
him und her, bis sein Herz nicht mehr mitmachte, und unser lieber Hans, zehnjährig,
zu den Scharen der Engel abberufen wurde. Wir drei übrigen Geschwister haben
wohl dieses Geschehen nie richtig erfasst, und bald ging wieder alles seinen ge-
wohnten Gang. Überdies kündigte sich später (1907) «Ersatz» an. Ich erinnere mich
noch gut, wie mir eines Tages der Vater sagte, ich solle vor der Schule noch

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Beatrix (das war die Hebamme) gehen und ihr sagen, sie solle kommen. Und
siehe da, Hans der zweite war erschienen, was uns ja weiter nicht gestört hätte,
aber da gab es dann bald noch zusätzliche Arbeit mit dem ewigen Kinderwagen
herumschieben, eine Beschäftigung, die jedes gerne dem anderen überliess. Wenn
dann dieser Schreihals, trotz Renntempo, in seinem Wagen nicht Ruhe gab, wurde
zu strengeren Massnahmen gegriffen. Diesen etwas spartanischen Methoden hat
es mein lieber Bruder wahrscheinlich zu verdanken, dass er dann ein grosser, star-
ker Mann wurde und heute noch lebt!

Kaminbesteigung

Unvermerkt wurde man grösser und fühlte sich schon wichtiger, hatte einen Schul-
schatz, auch ein Grund, warum der Schulweg oft etwas länger war. Entsprechend
der Grösse machte man dann auch grössere Kalbereien, wie z.B. folgende: Bei der
alten Hütte war der Brennofen längst abgebrochen worden, der etwa 30 - 35 Me-
ter hohe runde Kamin blieb aber stehen, obwohl er nichts Mehr nützte. Eines Ta-
ges kam mir die Glanzidee, diesen Kamin zu besteigen. Unten war ein Loch, durch
das seinerzeit der Rauch aus dem Ofen in den Kamin gelangte. Durch dieses Loch
konnte ich ohne Mühe ins Innere kriechen. Einmal drinnen, sah ich weit oben den
blauen Himmel als kleinen, runden Fleck. Für den Kaminfeger waren Eisenstäbe
wie Leitersprossen eingemauert. Allerdings waren sie ein Stück weit hinauf abge-
rostet, so dass nur noch kurze Stumpen aus der Mauer herausstanden, was aber
für mich kein unüberwindliches Hindernis war und auch keine Bedenken auslö-
ste. Trotzdem alles schwarz und feucht war und weiter oben gar zwei Fledermäuse
an so einer Sprosse hingen, begann ich den Aufstieg. Der Abstand der Sprossen
war für einen Mann berechnet, für mich also sehr gross. Zudem musste ich immer
diese Sprossen prüfen, ob sie auch standhalten würden. Es war keine leichte Sa-
che, aber es gelang. Weiter oben wurde es etwas enger, so dass ich mit dem Rücken
anlehnen konnte um zu rasten. Einmal mit dem Kopfe über den Rand, konnte ich
feststellen, dass der Abschluss der Mauer mit einem schweren gusseisernen Ring
abgedeckt war. In diesen Ring eingelassen stand auch die mannshohe Blitzablei-
terstange. An dieser mich haltend, stand ich nun oben und hatte mehr Stolz als ein
Bergsteiger auf dem Himalaja haben konnte.

Zufällig fuhr der Vater mit seinem «Brennabor» vom Dorf her. Ich machte mich
mit Jauchzen und Winken bemerkbar, aber zu meiner grössten Enttäuschung
schien er mich weder zu hören noch zu sehen. Bald begann ich den Abstieg und
kam glücklich wieder auf den Boden, um dann rückwärts aus dem Loch zu krie-
chen. Ohne dass ich eine Ahnung hatte, war vor dieser Öffnung ein Empfangsko-
mitee versammelt. Dessen Obmann in der Person meines Vaters nahm mich zu
Handen und bearbeitete mein Hinterteil, wie ich dies in dieser Stärke noch nie er-
lebt hatte. Die Mutter hielt noch eine Standpredigt, und ein paar «Hüttler» waren
das Publikum. Auf diese Art wurde meine Heldentat belohnt. Als ich am folgen-
den Tag zum Orte meines «Verbrechens» zog, stellte ich fest, dass das Loch zuge-
mauert und demnach ein Idyll zerstört war.

Neue Kleider

Auf Ostern war es Brauch, dass Hermann und ich zu Schneidermeister Kolb ge-
hen mussten, der uns dann Mass nahm für neue Sonntagskleider. Prompt auf die
Feiertage brachte er dann die Kunstwerke ins Haus, nicht ohne gleichzeitig auch
die Rechnung zu präsentieren. Am Heiligtag trugen wir dann stolz unsere neuen
Kleider. Am Nachheiligtag war dann noch etwas fällig zur Kontrolle. Ich hatte letz-
ten Herbst beim Hüten im Brunnacker ein Krähennest auf der grossen Eiche be-
merkt; nun wollte ich wissen, ob es heuer auch wieder bezogen worden sei. Also
ging ich mit Hermann nach der Kirche dorthin, und richtig flog gerade eine Krähe

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ein. Nun galt es, den grossen Baum zu erklettern, was mit Hilfe meines Bruders un-
grosser Anstrengung gelang. Einmal auf dem untersten Ast, war da der Auf-
stieg bis zum Nest einfach. Dasselbe hinabwerfen war ja der Zweck der Übung,
warm weiss ich auch nicht, es musste einfach herunter. Wieder auf festem Boden,
fanden wir, dass es noch zu früh zur Heimkehr war und beschlossen Grabenborde
anzuzünden. Das magere Gras den Gräben entlang war vom Herbst her noch dort
und brannte bei diesem schönen Wetter lustig vorwärts. - Zündhölzer gehören oh-
nehin zum Inhalt der Hosensäcke eines rechten Buben. - Da es etwas föhnig war,
brannte das Gras nur zu gut, und die Sache fing an, gefährlich zu werden. Es be-
stand die Gefahr, dass die noch stehende Streue im Lehmloch gefährdet würde, und
wir bekamen es mit der Angst zu tun. In unserer Not zogen wir unsere neuen
«Tschöpli» aus, um mit diesen das Feuer auszuschlagen. Mit grösster Mühe gelang
es uns, wieder Herr der Lage zu werden. Erst jetzt sahen wir die Folgen unseres
Tuns. Die Kittel sahen aus wie Kohlensäcke nach langem Gebrauch; überdies wurde
es Zeit, um heimzugehen. Die Kittel hängten wir im Gang draussen auf, aber als die
Mutter uns gewahrte, bekam sie fast einen Schlag. Unsere Gesichter, Gilets und
Hemden sagten alles; zu allem Unheil kam auch gerade noch der Vater heim. Was
jetzt folgte, will ich lieber übergehen, es war nichts Rühmliches. Wir mussten uns
gründlich waschen und dann ohne «Z'nacht» ins Bett. Wie die Mutter es machte,
dass unsere Kleider wieder in Ordnung kamen, weiss ich nicht; ich weiss nur, dass
sie auch ohne solche zusätzliche Arbeiten genug zu tun hatte.

Unfall mit Folgen

Einige Wochen später passierte erneut ein Unheil: Wir hatten etwas ganz «Ge-
scheites» ausgeheckt. Am Sonntagnachmittag zogen wir unseren Handwagen Rich-
tung Kobelwald hinauf bis zur ersten Kehre. Hier wurde ein Prügel quer durch die
Leitersprossen hindurch über die Hinterräder gelegt. Ich als Lenker legte mich
bäuchlings auf den Wagen, um mit den Händen den Deichsel zu führen. Die ande-
ren setzten sich auf den erwähnten Prügel, der eben die Bremse ersetzte, und los
ging die Talfahrt. Wenn das Tempo zu schnell wurde, verlagerten die Bremser ihr
ganzes Gewicht auf diesen Prügel, und die Fahrt verlangsamte sich ganz nach
Wunsch. Dies war lange unser Sonntagsvergnügen, aber der Krug geht zum Brun-
nen, bis er bricht. Bei «schönem» Tempo verfehlte ich prompt einen Stein nicht, und
schon war es geschehen:Der Wagen ging hinten hoch und vorne nieder - Sturz! Als
der erste Schreck vorüber war, stellten sich prompt grosse Schmerzen an meinem
rechten Vorderarm ein, und es blieb nichts anderes übrig, als heimzugehen und zu
bekennen. Die Mutter sah natürlich bald, dass der Arm gebrochen war und tele-
phonierte dem Arzt; dieser war aber nicht daheim. Das Dienstmädchen riet aber,
wir sollten kommen und warten, bis der Herr Doktor zurück sei. Ich hatte grosse
Schmerzen, liess aber nichts merken. Als der Arzt gegen Abend kam, stellte er fest,
dass beide Knochen gebrochen waren und renkte die Sache wieder ein; dadurch
gingen die Schmerzen weg, dafür war aber ein Gipsverband da.

Lektüre

Als Vater heimkam und die Geschichte vernahm, sagte er nur: «'s kommt Dir
wohl, dass man Dich nicht anrühren darf.» Glück muss man haben! In die Schule
musste ich aber trotz dem Gips, und der Lehrer machte seinerseits auch noch Be-
merkungen, aus denen man ohne grossen Scharfsinn heraushörte, was für ein Lüm-
mel meines Vaters ältester Sohn sei! Da ich mit meinem Verband sehr gehemmt
war, konnte ich nicht viel anderes machen als lesen. Als Lesestoff dienten daheim
das Buch «Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens», ferner der «Werden-
berger» mit wöchentlich drei Ausgaben und am Samstag als Beilage «Der
Alvier». Dazu kamen alle Wochen das «Baublatt» und der «Maschinenmarkt». Im

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letzteren hatte es Bilder und Zeichnungen von Maschinen, was mich besonders in- interessierte. Bei Tante Lina auf der Post lag dann Lesestoff, der eines rechten Bu-
ben Herz erfreute: einige Bände Karl May. Da war dann keiner, der nicht zwei- bis
dreimal durchgeackert wurde, und Winnetou war mir besser bekannt als der Leh-
rer.

Altpapier

In jenen Jahren war es auch, wo ich anfing, Briefmarken zu sammeln. Schon da-
mals es, wenn auch nicht so viel wie heute, Altpapier. Wenn dann so ein Po-
sten Zeitungen und Heftli im Wege war, brachten wir ihn in die Kartonfabrik Kist-
ler in Eichberg. Dort gab es pro Kilo ein paar Rappen. Als ich einmal Papier
brachte, war gerade Herr Kistler anwesend, den ich von gelegentlichen Besuchen
bei meinem Vater her gut kannte. Ich benützte die Gelegenheit und fragte Herrn
Kistler, ob ich die Fabrik einmal ansehen dürfe. Zu meiner grossen Freude führte
er mich persönlich durch alle Räume und erklärte mir, wie man aus Altpapier Kar-
ton herstelle. Er wurde an das Telephon gerufen, und ich blieb noch auf eigene
Faust in der Fabrik. Ich hatte nämlich vorher auf dem Rohmaterialdepot viele
Briefcouverts mit fremden Marken gesehen. In jener Zeit stand die Stickerei in
der Blüte und man verkehrte mit der halben Welt. Mit dem Altpapier (Makula-
tur) kamen solche Couverts in grossen Mengen. Ich erinnere mich noch gut an die
Briefmarken, z.B. amerikanische mit der Büffelherde oder einer grossen
Dampfloki darauf, dann die deutsche mit der Germania, englische mit dem Kopf
von König Eduard, französische mit einer Säerin, usw. All' diese Herrlichkeiten
wurden in der «Papieri» rücksichtslos eingestampft. Da spielte es keine Rolle,
wenn wir Buben den Altpapierhaufen etwas durchstöberten.

Zufolge Fachkenntnis und Erfahrung gab es halt auch eine entsprechende Samm-
lung trotz dem Briefmarkenalbum, das ich einmal zu Weihnachten erhielt. In den
Jahren meiner Abwesenheit von Zuhause ist die Sammlung verschwunden, wer
weiss wohin.

Palmbäume

Mein Grossvater verhalf mir unbewusst zu einem weiteren Erlebnis. Er kam näm-
lich auf die Idee, ich sollte am Palmsonntag wie andere Knaben auch eine Palme
zur Kirche tragen, und anerbot sich, mir eine solche zu machen, wie schöner keine
zu machen sei. Ich war gar nicht erbaut ob diesem Antrag, konnte aber dem Gross-
vater nicht widersprechen und willigte ein, «contre coeur».

Einige Tage vor dem Fest gab der Förster Ort und Zeit bekannt, wo man im Wald
eine passende Tanne holen könne, zwecks Erstellung einer Palme. Dies war für uns
Buben ein Ereignis und zudem gab es einen halben Tag schulfrei!

Zur bestimmten Zeit begaben sich eine Anzahl Knaben in den Wald, wo der För-
ster (Herr Falk) für jeden eine Tanne bestimmte. Von seinem Standpunkt aus
wählte er natürlich nicht die schönsten aus, für die es ja schade gewesen wäre, aber
am Ende bekam doch jeder Anwärter eine, die etwa dreimal länger war als er. Am
gleichen Tag erhielten auch die Montlinger Buben ihre Palmen, und so ereignete
sich wie jedes Jahr eine Schlacht zwischen den Oberrietnern und den Montlingern.
Warum das so war, weiss niemand, aber ein Vorwand, um Händel anzufangen, war
immer vorhanden.

Nachdem man sich gegenseitig beschimpft und verprügelt hatte und jeder dachte:
Denen haben wir's besorgt! zogen dann die Montlinger über Kobelwies und die
Oberrieter über Kobelwald heim zu. Ich brachte meine grosse Tanne gleich zum
Grossvater. Wenn schon musste es etwas Grosses sein, und der Förster hatte eine
glückliche Hand gehabt. Am Samstag ging dann der Grossvater an die Arbeit und
erstellte die versprochenen Palme. Der Stamm wurde mit Buntpapier umwickelt

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und die vier bis fünf untersten Äste wurden geschält und mit schönen roten Äp-
feln bestückt und oben im Bogen wieder gegen den Stamm bedunden. Es brauchte
einen Korb voll Äpfel dazu. Die oberen Äste wurden nich mit farbigen Papier-
streifen und kleinen Helligenbildli verziert, und fertig war das Ding.

Es wurden aber nie so viele Palmen erstellt als Tannen geholt; manch einer wollte
sich nur einen Schöpfkübelstiel oder eine Hakenstange ergattern.

Am Palmsonntag versammelten sich dann die Palmenträger vor der Kirche, und
wenn es zu läuten begann, marschschierte man durch den Mittelgang zum Chor
vor, um sich dort im Halbkreis aufzustellen. Weil die Kirchentüre, obwohl fast so
gross wie win ein Scheunentor, zu niedrig war, musste man die Palmen etwas umlegen,
und erst im Innern der Kirche konnte man sie wieder aufrecht tragen. Bei diesem
Vorgang passierte mir ein Unheil. Die Äste mit den Äpfeln waren offenbar zu we-
nig stark zusammengebunden und lösten sich, so dass viele davon den Gang hin-
aus kollerten. Wohl halfen die Kirchgänger, den Schaden zu beheben und die Äp-
fel wieder aufzuspiessen, aber es gab halt doch Verzögerung, und der Weibel hatte
die Türen schon geschlossen, sonst wäre ich gleich wieder hinaus gegangen. So
musste ich als Nachzügler allein zum Chor zu laufen, ein «Spiessrutenlaufen» be-
sonderer Art.

Kleiner Grenzverkehr

In den Jahren vor dem Kriege 1914 - 18 war der Verkehr mit unserem Nachbar-
land problemlos; es brauchte keinen Pass; für Kleinigkeiten wurde auch kein Zoll
erhoben. Nur auf der Rheinbrücke musste der sogenannte Brückenzoll bezahlt
werden, pro Kopf ein paar Heller. Heller, Kronen und Gulden waren drüben die
Währung und entsprachen ungefähr der unsrigen im Kurs. Diesen Brückenzoll zog
Meiningen ein, zum Unterhalt der Brücke. Einzieher war ein altes, etwas be-
schränktes Männli; wir Buben drückten uns immer um's Zahlen, indem wir ihm
erklärten, dies auf dem Rückweg zu besorgen und beim Rückweg sagten wir, dass
wir im Hinweg für beide Wege bezahlt hätten. Dieser Trick gelang bei der Be-
schränktheit des Brückenmannli jedesmal. Billette gab es eben nicht.

Mit einem Schulkameraden, Albert Baumgartner, bin ich hie und da zu Fuss nach
den Dörfern von Feldkirch bis Götzis gelaufen, mit dem Hühnerkorb am Arm
oder dem Krätzli auf dem Rücken. Albert's Vater handelte mit Gitzi und Geflü-
gel, und sein Sohn musste oft nach der Schule nach den erwähnten Dörfern lau-
fen, um Hühner, Kaninchen oder Eier zu erhalten. Ich habe oft gestaunt, wie er es
ausfindig machte, wo etwas zu kaufen war und wie er dann um den Preis feilschte,
aber gekonnt hatte er es.

Taschengeld

Damals ist man wegen ein paar Rappen Verdienst weiss Gott wie weit gelaufen,
und dass der Verdienst nicht an den abgelaufenen Schuhsohlen draufging, lief man
eben barfuss. Jeweils auf die Kilbi hin erwachte auch in mir der Erwerbssinn. Um
einige Kilbirappen zu ergattern, scharrte ich am Schützenwall die Bleikugeln her-
aus und wenn im Schützenstand noch etwas leere Kupferhülsen herumlagen, ver-
besserte dies die Ausbeute wesentlich. Auch Alteisen fand sich überall herum. Als
die Wasserversorgung gemacht wurde, gab es viel Bleiringe, die sonst als Abfall
nur liegen gelassen wurden. Warum sollten sie nicht verwendet werden? Fahr-
pläne verkaufen und gleichzeitig auch nach Altpapier fragen, lohnte sich auch.
Den grössten Posten gab es von Grossvater, der den Hüterlolin auf die Kilbi hin
auszahlte.

Damit unsere Freizeit gut genutzt sei, liess der Vater vom «Sepp» für uns eine
kleine Karette anfertigen; mit dieser sammelten wir dann auf den Strassen den
Pferdemist.

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Für eine volle Karre vergütete der Vater 20 Rappen. Auf diese Weise gab es dann
auf den Frühling den nötigen Dünger, und die Küngel und die Hühner leisteten
auch ihren Teil daran.

Da ich gerade vom Geldverdienen schreibe, soll auch noch erwähnt werden, wie es
mir als Mauser ging. Auf dem Heimweg von der Schule sah ich den Mauser Ma-
thias Bont an seiner Arbeit. Aufmerksam verfolgte ich sein Tun und stellte noch al-
lerlei Fragen. Die Sache gefiel mir so gut, dass ich beschloss, mich mit dem Mausen
zu bereichern. Gegenüber dem Schulhaus hatte «Ruedelis Berta» einen Laden; wir
holten bei ihr das Petrol und die Schreibhefte, aber auch die Spezereien und eben
Mausefallen waren bei ihr zu haben. Ich fragte nach dem Preis der Fallen. Sie ko-
steten 70 Rappen per Stück; um leicht zu rechnen kaufte ich zehn davon. Das war
dann schon ein rechter Betrag, und ich machte den Vorschlag, ihn aus dem Erlös
der Mäuse zu bezahlen. Berta war nach einigem Zögern einverstanden, wahr-
scheinlich dachte sie, im schlimmsten Falle sei ja die Mutter auch noch da. Nun ging
ich sofort an die Arbeit, alle Fallen wurden sachgemäss gestellt und mit Ruten mar-
kiert. Nicht bedacht hatte ich den Umstand, dass der Mauser diese Gegend ja erst
durchgekämmt hatte. Der Erfolg war darum auch entsprechend, am ersten Tage
nichts, ebenso am nächsten und am folgenden. Dann, oh Wunder, eine richtige
Schermaus und später eine grosse Wühlmaus; dies war das Ergebnis einer Woche.
Ich war immer ein Optimist, aber trotzdem war mir klar, dass ich mich verrechnet
hatte, zudem kam noch der Umstand, dass ich trotz intensivem Suchen nur noch
acht Fallen hatte.

Nun kam wieder einmal die Reue. Nach kurzer Überlegung beschloss ich auf-
zuhören, bevor der Schaden noch grösser wurde. In der Not wandte ich mich an
«Sepp», der mir versicherte, dass die Fallen, wenn sauber gereinigt, wieder wie neu
werden. Mit meinen frisch renovierten Fallen ging ich kleinlaut zu Berta und er-
suchte sie, die Dinger wieder zurückzunehmen, was aber nicht so ohne weiteres ge-
lang, ungern nahm sie dann diese um 60 Rappen das Stück, zurück. So war meine
Schuld noch 2 Franken und 20 Rappen. Vom Mauser erhielt ich statt 30 nur 20 Rap-
pen, also total 40 Rappen. Nun war noch eine Beichte bei Mutter fällig, deren Er-
gebnis war der Restbetrag von Fr. 1.80. Jetzt konnte ich meine Schuld bezahlen.
Dadurch war wieder ein Kapitel abgeschlossen. 1.80 Fr. für eine Menge Erfahrung
war eigentlich nicht einmal so viel Lehrgeld, spätere Lehren kosteten viel mehr.

Ins Unendliche ging es, wollte ich noch schreiben vom Laubsägen, vom Nistkästen
bauen, von den Föhnstü[r]men im Frühling und Herbst; bei letzteren folgte dann das
Lauben im Buchenwald. Das war dann jeweilen ein Fest, wenn wieder frisch ge-
füllte Laubsäcke in den Betten waren, so dass man kaum hinaufklettern konnte,
um dann in ein warmes Loch zu versinken; da brauchte man noch keine Schlafpil-
len!

Naturgewalten

Dann die nicht seltenen Hochwasser vom Rhein, welche die Auen überfluteten und
wo die Wasserwehr alle Hände voll zu tun hatte, um mit Steinen und Sandsäcken
Durchbrüche zu verhüten. Da wurden Bäume, Bauholz, Bretter, sogar Tiere daher
getrieben und blieben oft an den Brückenpfeilern hängen, dass mit Beil und Säge
nachgeholfen werden musste, damit nicht noch die Brücke weggerissen wurde, et-
was, das anderenorts auch vorkam (Tardisbrücke, Eisenbahnbrücke Buchs -
Schaan).

Auch Brände gab es hin und wieder. Der Vater war einer der Gründer der freiwil-
ligen Feuerwehr und über 30 Jahre deren Kommandant. Das Feuerhorn, das stets
bei der Uniform bereit hing, diente in Friedenszeiten der Mutter als Mittel, uns Bu-
ben herbeizurufen, sei es zum Essen oder dass man uns sonstwie zu sehen
wünschte. Wurde aber ein Brandfall gemeldet, gab dann das Ding ganz andere

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Melodien ab. Wenn es nicht gerade bei Nacht brannte, waren wir natürlich sofort
bereit, zum Feuer zu rennen und dort überall im Wege zu stehen. Trotzdem seit
1905 ein Hydrantennetz über die ganze Gemeinde verteilt war, brauchte man für
ganz abgelegene Gehöfte doch noch die alte Feuerspritze. Das war dann auch so
ein Wunderding, das man nicht genug bestaunen konnte.

Von der Kilbi, vom Maikäfer sammeln, vom Glockenaufzug anlässlich der Kir-
chenrenovation, vom Kinderfest und vom Funkensonntag wäre auch noch vieles
zu erzählen.

Erwähnt sei noch die Landung eines Freiballons von Spelterini, ein Ereignis, das
noch lange den Gesprächsstoff im Dorf bildete.

Eduard Spelterini, eigentlich Eduard Schweizer (* 2. Juni 1852 in Bazenheid, Kanton St. Gallen; † 16. Juni 1931 in Vöcklabruck, Oberösterreich), war ein Schweizer Luftfahrtpionier, Ballonkapitän und Fotograf. In seiner 43-jährigen Tätigkeit als Pilot stieg er mit 1237 Passagieren 570 Mal auf.

Schneeballschlachten Unterdörfler kontra Oberdörfler, Vater's Brennabor, das
«Heiligtum» mit der Luftbereifung, das wir nicht einmal putzen durften, ge-
schweige denn damit fahren.

Anm.: Hier muss es sich um den Brennabor Typ A1 (1905–1911) mit einem Reihen-2-Zylinder (904 cm³) mit 8 PS, 50 km/h gehandelt haben.

Als Oberschüler wurde ich als würdig oder wenigstens gross genug befunden, über
die 8 Wochen Herbstferien als Hüterbub bei meinem Grossvater angestellt zu wer-
den. Sein Bauerngut südlich der Ziegelei war mir ja längst bekannt. Es wohnten
in dem grossen Hause auch noch mein Götti, sowie dessen Bruder Konrad
und seine Schwestern Anna, Rosa und Berta. Das Viehhüten gab ja nicht viel zu tun,
da aller Boden in der Umgebung war. Man brauchte nur das Vieh hinein zu trei-
ben und die Riegel aufzulegen, das Futter suchte es ja selbst. Von Zeit zu Zeit mus-
ste ich nachsehen, ob kein Tier zu voll sei, was dann leicht zu Blähungen führen
konnte. Wie man feststellte, ob eine Kuh voll sei, erklärte mir der Grossvater ein-
gehend am Objekt. Morgens und abends wurde im Freien gemolken. Damit der
Melker ungestört arbeiten konnte, musste ich mit dem Pferdeschwanz die Fliegen
und Bremsen abwehren. Nach dem Melken wurden die Kühe in den Stall getrie-
ben, doch die junge Ware blieb über Nacht im Freien. Meine Aufgabe war auch
das Auflesen des Fallobstes. Abends waren dann die Eier einzuholen. Da die Hüh-
ner Freilauf hatten, kam es vor, das die «verlegten». Da galt es, die oft raffiniert
versteckten Nester zu finden. Dass man dabei nicht alle gefunden hatte, kam dann
aus, wenn auf einmal eine Henne, deren dreiwöchige Abwesenheit niemand be-
merkt hatte, mit einer Schar Küken erschien.

Maismühle

Wenn das Riebelmehl zu Ende ging, hiess es, mit einem «Stumpen» Mais in die
Mühle fahren. Per Handwagen in's Moos und zurück war eine ziemliche Reise. Sä-
ger's Karl hiess der Müller, war ein ganz gemütlicher Mann, der bald merkte, dass
mich so eine Mühle stark interessierte; bereitwillig zeigte er mir das grosse Was-
serrad hinter dem Hause, dann das Getriebe mit den hölzernen Zahnrädern, die
Mühle und die Siebanlagen. Wenn nicht gerade ein grosser Posten aufgeschüttet
war, konnte man darauf warten, bis der mitgebrachte Mais gleich gemahlen war.
Den Mahllohn konnte man gleich bezahlen. Wer nicht bezahlte, dem wurde ein-
fach ein entsprechendes Quantum Mehl abgenommen. Damit das Warten etwas
verkürzt wurde, bekam man von der Müllerin ein währschaftes Stück Maisbrot, in
dem man mit einigem Glück etwa noch eine Weinbeere fand. Die Müllersleute
hatten einige Töchter, wovon eine, Ida mit Namen, in die gleiche Klasse ging wie
ich. Ich glaube wegen meinen roten Haaren war ich ihr gar nicht sympatisch. Ge-
legentlich rief sie mir nach: «Rot Lüt hond sieba Hüt, sechs mee als ander Lüt!»

Viehhüten

Der Grossvater besass auch noch zwei grosse Wiesen, die weit weg vom Hofe la-
gen, eine im «Bannacker» und die andere in der «Pfäffi». Wenn sie im Herbst ab-
geweidet werden mussten, ging ich am Morgen mit der ganzen Herde weg, um erst
abends wieder heimzukehren. In einem Sack führte ich genügend Äpfel, das

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Mittagessen und Bürste und Striegel mit; der Sack wurde einer Kuh an den Hals
gebunden, sie trug ihn leichter als ich.

Mit einem rechten Stecken versehen, trieb ich dann die Tiere an das Ziel. Im «Ban-
nacker» war das Hüten einfach. Für den Weidgang gab es nur Magerwiesen. Dem
oberen Bord entlang floss ein Bächlein, und eine grosse Eiche sorgte für Schatten.
Bald war ein Hirtenfeuer gemacht; das Brennmaterial holte ich dort, wo es wel-
ches hatte, ohne lange zu fragen. An diesem Feuer briet ich dann an einer zuge-
spitzten Rute die Wurst, die dann mit dem Brot das Mittagessen bildete. Zum
Nachtisch gab es auf die gleiche Art gebratene Äpfel, und in der heissen Asche
kochten Kartoffeln. Herz, was willst du mehr?

Etwas mühsam fand ich das Striegeln und Bürsten der Kühe, aber wenn ich dann
sah, wie sie es gerne hatten und sich herandrängten, um behandelt zu werden, sah
ich doch wenigstens meine Mühe belohnt. Wenn am Nachmittag der Hunger ge-
stillt war, lagen die Tiere dann ab um wiederzukäuen.

Wenn es kalt war, lag ich oft ganz nahe bei einer Kuh und legte den Kopf an
deren Hals um zu hören, wie sie das verschlungene Futter wieder hochwürgte, um
es nochmals zu kauen. Wann es Zeit war, um heimzukehren, musste ich am Stand
der Sonne erkennen, da ich keine Uhr besass. Bald aber hatte ich gemerkt, dass
die Tiere einen guten Zeitsinn hatten: Wenn es an der Zeit war, standen sie nur so
herum und glotzten mich an, gerade als wollten sie fragen: Gömmer bald?

Wenn dann die «Pfäffi» drankam, wurde die Sache etwas komplizierter, denn es
war viel weiter dorthin. Dazu war das Wasser oft rar, trotz dem nahen Dürrenbach,
der, wie sein Name ja sagt, oft kein Wasser führte. Dann musste ich das Vieh zum
Kanal hin treiben und tränken. Rings herum lagen Äcker und Wiesen, weshalb ich
mir erlaubte, hin und wieder einige Erdäpfel oder Rüebli zu mausen. Dies war so
Brauch, meinen Schützlingen aber konnte ich das nicht erlauben, und oft musste
ich mit dem Hütestecken abwehren.

Erntezeit

In die Zeit der Herbstferien fällt auch das Mosten. Eines Tages werden die Fässer
aus dem Keller herausbefördert und gereinigt, zuerst innen; bei den kleineren
wurde einfach der Boden herausgenommen und nach der gründlichen Reinigung
wieder eingesetzt. Bei den grossen Fässern hat es Türli, die so gross sind, dass so
ein Hüterbub nach ablegen aller Kleider knapp hineinkriechen kann. Es gibt da
eine Faustregel: Wo der Kopf durchgeht, schafft es der «Rest» auch. Ist man drin-
nen, kommt die Bürste nach und obacht, warmes Wasser und etwas Theorie des
Grossvaters. Dann beginnt das Fegen, worauf das schmutzige Wasser durch Um-
legen des Fasses entleert und die Prozedur noch zweimal wiederholt wird. Nach
dem dritten Mal wird das Wasser schon nicht mehr so trüb, und der Bub kann her-
ausschlüpfen und er hat geschwitzt wie ein Dachs. Mit kaltem Wasser wird noch
nachgespült, der Zapfen eingeschlagen, und darauf beginnt die äussere Reinigung,
worauf dann alle Fässer auf eine umgelegte Leiter zum Trocknen aufgereiht wer-
den. Wenn das Mostobst bereit ist, verabredet man mit dem Torkelmeister die Zeit,
wann man drankommt. Die Säcke mit dem Obst werden dann in den oberen Stock
des Torkels getragen und ausgeschüttet. Durch ein Loch im Boden werden die Äp-
fel und Birnen in die Obstmühle gestossen, wo sie zu Brei zerquetscht in die Presse
fallen. Wenn die Zargen voll sind, werden zugeschnittene Bretter darauf gelegt,
und das Pressen kann beginnen, bald läuft der Saft ins Gefäss. Nachher wird die
Presse zurückgedreht, der ausgepresste Trester entfernt und der Vorgang wieder-
holt. Der Saft wird in Transportfässern heimgeführt und im Keller in die Lager-
fässer umgeschüttet.

Ungefähr um die gleiche Zeit wird auch der Mais geerntet und daheim am Abend
gehülscht, eine Arbeit, die für die erwachsenen Leute interessant ist wegen dem

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Fest, das nach getaner Arbeit gefeiert wird, während der Hüterbub längst schon
schläft und erst in späteren Jahren drankommt.

Der Hülschet ist für die Jungmannschaft eine strenge Zeit, denn sozusagen jeden
Abend ist irgendwo so ein Hülschet und nach einem ungeschriebenen Gesetz fühlt
man sich verpflichtet, überall dabei zu sein.

Ebenfalls in diese Wochen fällt die Kartoffelernte. Damals wurden die Kartoffeln
noch von Hand, d.h. mit der Haue geerntet, und das war eine strenge Arbeit. Auch
das Mähen und Heuen wurde von Hand besorgt, allerdings kamen dann die ersten
Mähmaschinen, Marke «Mc Cormic», aus Amerika. Bei dieser Gelegenheit
möchte ich noch etwas erwähnen, das mir geblieben ist bis auf den heutigen Tag.
Wir holten die Milch für unsere Familie beim Grossvater. An einem Abend sagte
er mir dann, ich solle der Mutter sagen, von morgen an koste die Milch dann 20
Rappen. Offenbar war sie vorher noch billiger.

Nach all diesen Erlebnissen glaube ich, kann ich behaupten, auch ein wenig von
der Landwirtschaft zu verstehen. Dies ist auch etwas wert, kann man doch gele-
gentlich diesbezügliche Fragen aus der eigenen Anschauung beurteilen.

Realschule

Nach Allerheiligen begann dann der Schulbetrieb wieder, und gegen Frühjahr
stellte sich die Frage: Realschule ja oder nein?

Da die Eltern selbstverständlich nur für «ja» waren, gab es für mich nichts ande-
res, als mich zu der Aufnahmeprüfung zu melden. Anlässlich dieser Prüfung stellte
sich heraus, dass ich stark kurzsichtig war. Ich konnte nämlich von meinem Platz
aus die Aufgaben, die auf die Wandtafel geschrieben waren, nicht lesen und so kam
es, dass ich allein an einem Tischli direkt vor der Tafel sitzen und erst noch aufste-
hen musste, um die obersten Linien lesen zu können. Diese Feststellung war natür-
lich ein Schlag ins Kontor. Ein Schulrat sagte, ich solle dem Vater sagen, dass ich
eine Brille haben müsste.

Brille

Ich konnte dies fast nicht fassen. Infolge meines Einzelsitzes konnte man wenig-
stens nicht sagen, ich hätte meine Aufgaben von anderen abgeschrieben. Sie müs-
sen befriedigend ausgefallen sein, und ich war somit bei denen, die provisorisch
mit vier Wochen Probezeit aufgenommen wurden und nach Ablauf derselben
bleiben konnten.

Am ersten freien Tag fuhr Vater mit mir nach St. Gallen zum Augenarzt, Dr. Vetsch,
einem grossen Mann mit tiefer Stimme und einem Bart, ich sehe ihn heute noch
vor mir. Er stellte richtig Kurzsichtigkeit fest. Mit einem Rezept für eine Brille gin-
gen wir zum Optiker Walz an der Multergasse und erhielten Bescheid, dass die
Brille am Abend geholt werden könne. Seither trage ich nun eine Brille, musste
mich aber längere Zeit daran gewöhnen. In der Klasse war ich der einzige, der eine
solche brauchte. Sehr zu meinem Leidwesen musste ich fortan immer darauf Be-
dacht nehmen, dass das Ding nicht in Brüche ging.

Lehrer Bischoff

Nun zur Schule. Der Herr Lehrer hiess Bischoff und war ein nobler Herr mit ei-
nem grossen roten Schnauz. Da gab es nun eine Menge Neuheiten; wir mussten
eine blaue Mütze tragen und mit dem Barfusslaufen war es aus. Es hiess, dass wir
nun aus den Bubenjahren heraus seien und uns entsprechend zu benehmen hät-
ten. In der Klasse (der Lehrer unterrichtete die erste und die zweite Klasse) mit
je etwa 15 Knaben und Mädchen, gab es vor allem einen Stundenplan, damit man
immer wusste, was kam: Deutsch, Französisch, Arithmetik, Naturkunde, Physik,
usw.

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Schulfächer

Zur Verfügung stand ein grosser Glaskasten voller Hilfsmittel, wie sie gebraucht
werden beim Schulunterricht in Geometrie, Physik oder Chemie. Die Sache schien
interessant zu werden, und ich nahm mir vor, ein aufmerksamer Schüler zu wer-
den. Beim Fach Deutsch ging es im Lesen ganz gut und im Schreiben ganz schlecht,
und dies ist halt geblieben. Grammatik und Rotstift waren ein und dasselbe. Rech-
nen war damals auch nicht meine Stärke, höchstens noch bei der praktischen An-
wendung.

Französisch war natürlich neu für mich; man hätte jemand haben müssen, mit dem
man hätte üben können, aber die Mutter hatte anderes zu tun, und der Vater ver-
fügte, glaube ich, auch nur über einige Worte. So sagte er z.B., wenn er etwas ka-
tegorisch ablehnte, einfach «jamais Laura» und wenn er etwas befahl, kam zur Be-
kräftigung noch «mais toute de suite». Immerhin lernte man Grammatik, und dies
ist ja die Grundlage, und die kam mir später sehr zu gute. Naturkunde war etwas,
was mir besonders zusagte, da gab es sehr viel Neues, und der Lehrer öffnete uns
die Augen über vieles, an dem wir bisher wie blind vorüber gegangen waren.

Geometrie wurde an Hand der vielen Lehrmittel sehr eindrücklich und verständ-
lich gelehrt. Physik, das war das Fach, das mich besonders fesselte. Wenn dann der
Lehrer dem Lehrmittelschrank die Maschinen und Apparate entnahm, da war un-
sereiner dabei! Da erfuhr man von Lehren und Formeln und Grundsätzen, die
dann im späteren Leben in hundertfältiger Form immer wieder auftauchten, ei-
nem nützlich waren. In einem Fache konnte der Reallehrer nur bestätigen, was
schon die Primarlehrer gemerkt hatten: Ich konnte nicht singen. Nun, ich tröstete
mich mit dem Gedanken, es solle eben singen, wem Gesang gegeben sei. Ich war
der einzige, der nicht singen konnte und auch der einzige, der eine Brille brauchte.
Im übrigen war ich aber immer und überall dabei.

Berufswahl

Gegen Ende des zweiten Schuljahres tauchte dann die Frage der Berufswahl auf.
Der Vater hätte es gerne gesehen, wenn ich mich für das Ziegeleifach entschieden
hätte, aber wie die Verhältnisse damals waren und wie daheim täglich zu hören war,
wie das Ziegelmachen schlecht gehe und Eternit und Beton aufkämen, konnte ich
mich nicht dafür begeistern, und mein Wunsch war, Mechaniker zu werden.

Irgendwer riet meinem Vater, mich in die Metallarbeiterschule Winterthur zu
schicken, und schon wurde ich angemeldet. Bald darauf kam eine Einladung für
die Aufnahmeprüfung. Vater begleitete mich nach Winterthur. Es waren schon
eine Anzahl Burschen dort, und ich gesellte mich zu ihnen. Mit dem Bescheid, dass
er mich abends hier abholen werde, ging Vater seinen Geschäften nach. Bei der
Prüfung ging es nicht in allen Fächern gut. So sollte ich einen Aufsatz über das Ba-
rometer machen. Wohl wusste ich, was ein solches ist, und dass man nach dessen
Stand das kommende Wetter beurteilen konnte. Aber wer sein Erfinder war, wie
oder warum es seinen Stand verändert und dass es ausser dem bekannten Queck-
silberbarometer auch noch eine Art gibt, die mechanisch einen Zeiger betätigt und
auf diese Weise die Veränderungen anzeigt, all das wusste ich halt nicht, und ent-
sprechend fiel der Aufsatz aus. Ahnlich war es mit dem Fach Algebra. In der Re-
alschule hatten wir keinen Unterricht in diesem Fach, und die paar Einführungs-
stunden, die ich noch schnell erhalten hatte, genügten eben nicht.

Über sechzig Anwärter waren da, aber nur dreissig konnten berücksichtigt wer-
den. Da war ich eben bei den Unberücksichtigten. Es wurde dann eine Lehrstelle
gefunden bei Herrn Spühl in St. Gallen, aber erst auf den kommenden Februar.
Somit stellte sich noch die Frage, was tun bis dahin, entweder wieder in die Real-
schule oder dann in die Ziegelhütte. Ich zog letzteres bei weitem vor.

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Ziegeleiarbeiter

Nun war ich Ziegelhüttler wie viele andere auch; es waren anfangs sehr strenge
Wochen, gab es doch für den Direktorssohn keine Extrawurst, eher das Gegenteil.
Ich musste mich gewaltig zusammennehmen, um durchzuhalten, und ich habe es
geschafft. Mit Stolz brachte ich jeweilen der Mutter den Zahltag heim, wenn es
auch nicht viel Geld war. Einen grossen Gewinn machte ich noch so ganz neben-
bei: ich wurde in dieser Zeit auffallend grösser und stärker, war ich doch vorher ein schmächtiges Bürschtli. Auf Ende des Sommers kam dann von Spühl Bescheid,
dass ich auf den 1. Februar eintreten könne. Allerdings mit einer Probezeit von
vier Wochen. Meine Mutter kam mit mir, es war ja noch ein Zimmer und ein Ko-
stort zu suchen. Somit begannen jetzt die Lehrjahre.

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Lehrjahre

St. Gallen

Bei Heinrich Spühl, mechanische Werkstätten, Hagenbuch, St. Gallen , da wurde
ich Herrn Spühl und dem Werkmeister Herrn Bischof, vorgestellt. Nach den übli-
chen Redensarten bekamen wir, meine Mutter und ich, noch einige Adressen, wo
eventuell ein Zimmer zu haben wäre. Wir entschieden uns dann für das katholi-
sche Gesellenhaus, damals Casino, heute Ekkehard geheissen. Hier gab es Kost
und Logis im gleichen Hause; es wurden noch zwei «Übergwändli» gekauft, und
damit war alles geregelt, und Mutter fuhr wieder heimwärts. Der Abschied fiel bei-
den etwas schwer, und für mich gab es wieder Gelegenheit, auf die Zähne zu bei-
ssen, um Anfangsschwierigkeiten und Heimweh zu bekämpfen.

Heinrich Spühl: * 9.9.1847 Hüttwilen, 12.12.1924 St. Gallen, ref., von Hüttwilen und ab 1893 von St. Gallen. Sohn des Heinrich Spöhel, Kleinbauern und Gabelmachers, und der Katharina geb. Fehr. 1875 Paulina Rietmann, Tochter des Ulrich. Schlosserlehre in Frauenfeld, Wanderjahre mit Aufenthalten in Olten, Rorschach, Stuttgart, Wien, St. Petersburg und Moskau. Autodidaktische Fortbildung u.a. im Maschinenzeichnen. Werkmeister in St. Gallen. 1877 gründete Spühl die 'Mechanische Werkstätte Heinrich Spühl' für industrielle und landwirtschaftliche Maschinen in St. Gallen. Er besass rund 20 Patente. Deren Rechte verkaufte er meist an Dritte oder schloss Lizenzverträge ab. Erfolgreich war Spühl v.a. mit Maschinen zur Herstellung von Möbelfedern (Patent 1883-86). 1920 veräusserte er das Geschäft an die zwei ältesten Söhne, welche es in einen Fabrikationsbetrieb umwandelten.

Am folgenden Morgen war ich zur Zeit in der Bude und erhielt vom Werkmeister
Bischof noch einige Ratschläge über das Verhalten im Betrieb. Dann wurde mir
ein Platz an einem Schraubstock zugewiesen. Meine erste Aufgabe war, von einem
Stück Alteisen soviel abzusägen, dass daraus ein Würfel hergestellt werden
konnte. Schon die Eisensäge taugte nicht viel. Als ich dann aber eine Feile aus der
Werkzeugschublade aussuchte, um damit eine Fläche meines zukünftigen Würfels
zu feilen, zeigte es sich, dass sie alle stark abgenützt waren und es unmöglich ge-
wesen wäre, etwas Rechtes zu machen. Ich wurde offenbar beobachtet, und Bi-
schof brachte mir lächelnd eine bessere Feile. Als ich zu arbeiten anfing, fragte der
Werkmeister gleich, warum ich nicht gemeldet habe, dass ich schon irgendwo eine
Lehre begonnen hätte, er habe dies sofort gemerkt. Ich versicherte, dass ich noch
nirgends gewesen sei, erklärte dann aber, dass ich daheim in der Reparaturwerk-
stätte der Ziegelei allerlei gesehen hätte und daher mit dem Werkzeug umzuge-
hen wisse. So war die Sache abgeklärt, und ich machte mich hinter meinen Wür-
fel. Nach zwei oder drei Tagen glaubte ich, ihn zur Kontrolle geben zu dürfen. Er
wurde begutachtet und angenommen, mit dem Vorbehalt, dass mit der Zeit ein et-
was geraderer Strich gefeilt werden müsse. Dass man in diesem Falle eine schär-
fere Feile benutzen müsste, hat er wohl gewusst, aber nicht gesagt.

Als Zweites galt es, an einem Zahnrad zwei abgeschlagene Zähne zu ersetzen.
Herr Bischof bohrte mir mit einem selbstgeschmiedeten Spitzbohrer die nötigen
zwei Löcher, damit ich dann mit der Eisensäge den sogenannten Schwalben-
schwanz heraussägen könne. Mit meiner Säge war es jedoch unmöglich, Gussei-
sen zu sägen, also wieder zum Meister mit der Bitte um ein neues Sägeblättli. Mit
der Erklärung, wie rar so ein Sägeblättli sei, gab er mir eine andere Säge, die et-
was besser war. Das gleiche Manöver gab es wieder, als ich eine passende Drei-
kantfeile brauchte, um den Schwalbenschwanz genau auszufeilen. Mit grosser Ge-
duld und viel Mühe und Zeitaufwand gelang mir die Reparatur der Zahnräder
ganz gut, und der Meister war zufrieden.

Hinten herum trugen mir die anderen Lehrbuben zu, dass ich die Probezeit schon
hinter mir hätte, obwohl ich erst zwei Wochen da war. Da ich jetzt der jüngste Lehr-
ling war, wurden mir allerlei untergeordnete Arbeiten angewiesen, wie Wischen
und Ordnung machen, Znüni und Zvieri holen für etwa ein Dutzend Mann. Jeder
konnte mich zum Helfen rufen, und ich wurde bis zum Abend rechtschaffen müde.
Mein Oberrieterdialekt gab oft Anlass zu lachen und spötteln, als ob die St. Gal-
ler eine schönere Sprache hätten, wo Seife «Sopfa» heisst.

Werkstatt

In unseren Kreisen hiess die mechanische Werkstatt einfach «die Bude». Es war ein
zweistöckiger Bau im Hagenbuch. Durch die untere Türe gelangte man in die
Schmiede, dahinter lag das Motoren- und Turbinenhaus. Die Turbine leistete die

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meiste Kraft, und der Gasmotor besorgte den Rest. Ebenfalls im Parterre standen
die Eisenhobelmaschinen und die Bohrbank. Der Schmied hiess Gerhard Hölzli
und war ein Altstätter. Ihm war auch die Wartung des Motors und der Turbine
überbunden.

Im zweiten Stock befand sich die mechanische Werkstätte mit einer Anzahl Dreh-
bänke, Bohrmaschinen und der Fräse. Den Wänden entlang waren Werkbänke mit
Schraubstöcken und Werkzeugschubladen angebracht. Ganz hinten lag der
Probierraum, in welchem Herr Spühl immer etwas pröbelte: Er war Erfinder. Zu
meiner Zeit stand eine Ausschneidmaschine für die Stickerei in Entwicklung.
Eigentliche Aufgabe der Werkstätte war der Bau von Federwindemaschinen, auf
denen man Möbelfedern herstellen konnte; es war dies auch eine Erfindung von
Herr Spühl.

Die Belegschaft bestand aus Hölzli, zwei bis drei Lehrlingen im unteren Stock und
dem Werkmeister, dem Dreher Buff, dem Mechaniker Hargemann, dann noch
dem Mechaniker Kaufmann im Probierraum, sowie weiteren drei bis vier Lehr-
lingen, alles in allem zwölf Personen, wovon die Hälfte Lehrlinge. Der jüngste war,
wie schon erwähnt, der Handlanger und zugleich auch der Sündenbock für alles,
was schief ging. Dann waren zwei Hobler, welche die Langhobelmaschine und die
Shapping-Hobler bedienten. Später wurde man in die Geheimnisse des Eisendre-
hens eingeweiht. Da man damals noch alle Schrauben und Muttern selbst her-
stellte, war Arbeit genug für ein paar Lehrlinge, die auch die Fräse zu bedienen
hatten, mit welcher man die Zahnräder machte. Wenn man dann nach zwei bis drei
Jahren an allen Maschinen gearbeitet und sich bewährt hatte, begann die Ausbil-
dung zum Maschinenschlosser und Mechaniker. Die Herstellung und der Unter-
halt der damals oft noch primitiven Werkzeuge wurde ebenfalls gründlich gelehrt,
wie übrigens auch das Schneiden, Härten und Hartlöten.

Die von Spühl gebauten Federwindemaschinen wurden, mit Ausnahme des Ge-
stells und des Schwungrades, die aus der Giesserei kamen, vollständig selber her-
gestellt. Auch das Spachteln und Bemalen besorgten wir selbst. Sogar die Übersee-
Transportkisten zimmerten wir alle selber, getreu dem Wahlspruch von Herrn
Spühl, dass ein rechter Mechaniker alles können müsse. Zu diesem «Alles» gehörte
auch der Besuch der Gewerbeschule an drei Abenden pro Woche. Um sechs Uhr
begann der Unterricht im Schulhaus «Bürgli» in der Stadt. Dazwischen aber lag
noch der halbstündige Weg. Wir kamen also immer zu spät, was aber geduldet
wurde, weil wir von Spühl kamen, der ein grosser Förderer des Lehrlingswesens in
der Gewerbeschule war. Um die nötigen Stunden des Programms zu ermöglichen,
war am Sonntagvormittag Gelegenheit zum Zeichnen im Bürgli. Lehrer waren der
«dicke» und der «dünne» Scheitlin, zwei Brüder, die aber einander gar nicht gli-
chen. Sie sollten uns Lehrlingen Maschinenzeichnen, Materialkunde und Statik bei-
bringen. Im Hinblick auf die kommende Rekrutierung nahm ich noch einen Kurs
für Vaterlandskunde, erteilt von Lehrer Gonzenbach. Weiter nahm ich noch Stun-
den für Schönschreiben, leider ohne grossen Erfolg. Nach Ablauf der ersten vier
Wochen Probezeit wurde mir der Lehrvertrag übergeben. Dreieinhalb Jahre schie-
nen mir eine lange Zeit zu sein, und doch waren sie eigentlich bald verflossen. Es
gab eine Unmenge Neuheiten und Episoden. Eingeführt habe ich mich gleich in
der ersten Woche. Neben meinem Arbeitsplatz war ein unbesetzter Schraubstock;
in diesen spannte eines Tages der Dreher Buff eine grosse Schraubenmutter ein,
um die dazu gehörige Spindel einzuschrauben. Die Sache ging noch nicht, und beim
Zurückschrauben löste sich die eingespannte Mutter, und alles fiel mit grossem Ge-
polter zu Boden. Da musste ich halt lachen und sagte zu Buff : «Hock grad au dazu
abi!» Da gab es eine Reaktion, die ich nicht voraussehen konnte. Buff schrie
mich an, ich brauche ihm nicht «du» zu sagen. Dem Werkmeister sagte er, er
kündige auf Samstag und bleibe nicht länger in einer Bude, wo der Lehrbub einen

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duze. Bischof wollte ihn beschwichtigen und mir hat er, wie man so sagt, die Kappe
gewaschen. Herr Spühl kam auch herbei, liess sich alles erklären und zur Genug-
tuung für Buff liess er mich den Unterschied zwischen einem Lümmel aus dem
Rheintal und einem hochgebildeten Dreher aus der Stadt fühlen. Er werde noch
meinem Vater berichten. Ich anerbot mich dann freiwillig, Herrn Buff um Ent-
schuldigung zu bitten, und die Lage wurde wieder ruhiger. Buff hat dann nicht
gekündigt. Ich wurde noch lange deswegen gehänselt und schrieb mir dieses Er-
lebnis hinter die Ohren, es war ja dort Platz zur Genüge.

Paul Kühne

In jene Zeit fällt auch der Anfang der Freundschaft mit Paul Kühne, der auch Lehr-
ling bei Spühl war. Sonntags gingen wir miteinander spazieren, und seine Eltern
luden mich ein, bei ihnen Z'nacht zu essen. Es entstand eine Freundschaft, die uns
heute noch verbindet, obwohl Paul schon fünfzig Jahre in Paris lebt und längst dort
das Bürgerrecht besitzt. Paul hatte bereits ein Velo, und mir kaufte Vater in An-
betracht des weiten Weges von der Stadt ins Hagenbuch ein solches. Da fuhren wir
halt jeden Sonntag aus, manchmal nach Oberriet. Lohn hatten wir Lehrlinge kei-
nen. An beiden Jahrmärkten, am Kinderfest und am Fasnachtdienstag gab es ei-
nen halben Tag frei und dazu noch einen Zweifränkler, das war alles. Am Tag der
Musterung (militärische Einteilung) gingen wir am Nachmittag miteinander aus,
wie das so der Brauch war. Anderntags gab es dann von der Seite des Lehrherrn
Vorwürfe, ich hätte am Nachmittag gut wieder zur Arbeit kommen können, da die
Prüfung um halb zwölf beendigt gewesen sei; sogar von nachholen war die Rede.
So strenge waren damals die Bräuche.

1910, das Datum weiss ich nicht mehr, ereignete sich ein starkes Erdbeben. Ich war
schon im Bett, als das Haus zu wanken begann. So schnell war ich noch nie vom
fünften Stock hinabgesaust wie an jenem Abend. An vielen Orten fielen die Ka-
mine herunter, und die Leute standen noch lange herum und befürchteten noch
weitere Erdstösse. Ebenfalls um jene Zeit war es, da der Bruggwaldtunnel der
SBB, der gerade gebaut wurde, einstürzte. Ein Italiener Namens Pedercelli wurde
nach elf Tagen noch lebend ausgegraben; er erholte sich von seinen Strapazen im
Kantonsspital.

Noch erwähnen möchte ich den ersten Abzeichen-Verkaufstag . Von der Stickerei
hergestellte Alpenblumen, wie Enzian, Edelweiss und Alpenrosen, auf einem
Stoffstreifen montiert, zum Preis von einem Franken, wurden von den St. Galler
Stickereien zu Gunsten eines guten Zweckes verkauft. Trotzdem Geld bei mir das
«Wenigste» war, kaufte auch ich solche Blumen, die ich übrigens heute noch be-
sitze.

Auf Montage

Einmal musste der Organist der Linsenbühlkirche geklagt haben, dass die Blas-
bälge nicht mehr richtig funktionierten. Herr Spühl gab dann mir und Sennhauser
den Auftrag, einmal nachzusehen, wo es fehle. Also gingen wir zum Mesmer, der
uns die Kirche öffnete und die Orgel zeigte. Man sah das Unheil sofort: Die Me-
chanik, welche die Blasbälge betätigen sollte, war total ausgeleiert. Sie musste of-
fensichtlich nie geölt worden sein und war deshalb abgenützt und verlottert. Der
Mesmer begriff ohne weiteres, dass hier Ersatzteile beschafft werden müssten,
klagte uns aber, dass auf Sonntag ein Konzert angesagt sei und deshalb die Orgel
unbedingt gebraucht werde. Wir versprachen, die Sache zur Not provisorisch in-
stand zu stellen, holten in der Bude Werkzeug und Schrauben. Wir flickten das Ge-
triebe so gut wie möglich. Dann galt es, alles noch gut zu ölen, und siehe da, die
Geschichte lief wieder, wenn auch nicht gerade geräuschlos. Da uns der Mesmer
allein gelassen hatte, machten wir nach getaner Arbeit einen Ausflug in den Turm

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hinauf. Ganz oben war eine Luke, durch die der Dachdecker hinausstieg, wenn Re-
paraturen zu machen waren. «Was so ein Dachmarder kann, können wir auch»,
sagten wir. Es hatte ja Haltegriffe draussen. So sahen wir uns einmal die Stadt vom
Turm der Linsenbühlkirche aus an. Beim Rückzug verschlossen wir die Lucke wie-
der richtig. In der Glockenstube besahen wir das Geläute; auf der grössten Glocke
stand : «Ehre sei Gott in der Höhe.» Wir ergänzten noch mit Kreide : «Und sechs
Meter in der Breite». Wenn es inzwischen niemand ausgewischt hat, steht es heute
noch dort geschrieben.

In früheren Jahren baute Spühl auch Warenaufzüge, die mit Druckwasser getrie-
ben wurden. Zwei davon waren zu meiner Zeit noch in Betrieb, einer bei Viktor
Mettler an der Spisergasse und der andere in einer Glaswarenhandlung an der
Marktgasse. Da gab es hie und da Pannen, die zu beheben jeweilen der älteste
Lehrling geschickt wurde. Meistens waren es undichte Ventile, die versagten. Eine
solche Arbeit dauerte dann auch immer länger als unbedingt nötig gewesen wäre,
und obendrein gab es noch etwas Trinkgeld.

In der Strafanstalt St. Jakob stand auch eine unserer Federwindmaschinen, auf
welcher die Sträflinge Federn herstellen mussten. Auch diese wurde einmal repa-
raturbedürftig. Diesmal ging der Werkmeister persönlich, und ich war sein Gehilfe.
Es galt, die abgenützten Bestandteile auszubauen, um sie dann in der Werkstätte
zu reparieren oder durch neue zu ersetzen. Man hatte ein ganz ungutes Gefühl in
dieser Strafanstalt; zu sehen gab es eigentlich nicht viel, dafür stellte man einen
sehr üblen Geruch fest, der in den Aufenthaltsräumen noch schlimmer sei als in
den Werksälen.

Gegen Ende der Lehrzeit kam Herr Spühl wie öfters in die Werkstätte (Büro und
Wohnung hatte er in der Stadt). Bei diesem Besuch sagte er mir, ich solle nach Fei-
erabend zum Stadttheater kommen, er werde mich dort erwarten. Da so ein Lehr-
bub nicht immer ein blütenweisses Gewissen hat, war mir nicht recht wohl bei der
Sache, hatte ich doch keine Ahnung, was dieses Stelldichein zu bedeuten habe.
Prompt war ich zur Stelle, wo auch Herr Spühl schon wartete. Nun gingen wir zu
Scherraus, dem Uhrmacher, der damals noch im Hecht, wo jetzt das Kino ist, sei-
nen Laden hatte. Hier liess er mir eine Anzahl Uhren vorlegen, aus denen ich mir
eine auswählen durfte. Wer die Wahl hat, hat auch die Qual! Mir gefiel eine ele-
gante Uhr mit Sprungdeckel, und ich fragte, ob ich einmal das Werk derselben se-
hen dürfte. Bereitwillig öffnete der Verkäufer die Uhr. Nun war meine Wahl ent-
schieden, stand doch da: 17 Rubis. Der Uhrmacher gratulierte mir zu meiner Wahl,
ich hätte da etwas Rechtes gewählt. Hochbeglückt bedankte ich mich und wurde
entlassen. Zu einer Kette hat es offenbar nicht gereicht, die kaufte mir nachher die
Mutter.

Casino

Nun wäre noch einiges zu berichten über meinen Logisort. Wie eingangs erwähnt,
brachte man mich im katholischen Gesellenhaus oder Casino unter. Es ist dies die
Hochburg der K. K. Partei und wurde im Volksmund Pfaffenzirkus genannt. Nebst
dem Restaurant und dem grossen Saal im ersten Stock waren noch ein Speisesaal
und ein grosser Aufenthaltsraum des Gesellenvereins vorhanden. Im dritten, vier-
ten und fünften Stock waren eine grosse Zahl Zimmer für die Mitglieder des Ge-
sellenvereins und die Wohnung des Wirtes und Verwalters Herr Popp. Im Speise-
saal war Platz für 60 Kostgänger. Daneben anschliessend lag das Vereinslokal für
die Söhne Vater Kolpings. Zeitungen und Spiele standen zur Verfügung.
Ein Senior, Herr Giezendanner, sorgte für Ordnung. Mit ganz wenigen Ausnah-
men waren die Gesellen Deutsche aus allen Gauen und einige Österreicher. Es
dauerte ziemlich lange, bis ich die verschiedenen Dialekte dieser Handwerker ver-
stand. Es waren hauptsächlich Schreiner, Maler und Buchbinder vertreten. Sie

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kamen aus allen Teilen Deutschlands, von der Waterkant hinauf bis an den Bo-
densee. Oft kam es vor, dass abends Neuankömmlinge eintrafen. Sie grüssten im-
mer mit dem Spruch: Gott segne das ehrbare Handwerk! und wiesen sich mit dem
sogenannten Wanderbuch aus. Der Senior sorgte für Unterkunft und gab Aus-
kunft, wo Arbeit zu finden sei. Der Katholische Gesellenverein war ein grosses so-
ziales Werk und wurde geschaffen vom Gesellenvater Pfarrer Kolping in Köln,
dem damaligen Brauche Rechnung tragend, dass jeder der Lehre Entlassene ein
paar Jahre in die Fremde zog, um sich weiterzubilden im Beruf und im Leben. An
schönen Abenden, wenn nicht Schule war, sah ich mir die Stadt an, gab es da ja im-
mer etwas zu schauen. Damals kamen gerade die Kinos auf. In St. Magnihalden
stand die erste dieser Revolverbühnen. Es waren noch Stummfilme, die bedenk-
lich flimmerten. Max Linder war Filmstar hauptsächlich in komischen Rollen.
Meine Kasse erlaubte mir nur ganz selten einen Kinobesuch. Dafür kannte ich
mich in den verschiedenen Museen aus. Im schönen Stadtpark stand die Volière,
bei der ich viele Stunden verbrachte. St. Gallen war eine sehr fortschrittliche Ge-
meinde, es gab damals schon ein richtiges Hallenbad, und auf Drei Weihern, un-
terhalb des Freudenbergs, hatte es vorbildliche Freibäder. 1911 baute man eine er-
ste Kläranlage in Wittenbach. Die Bürger werden sich gesagt haben: «Wenn wir
schon unser Trinkwasser vom Bodensee heraufpumpen, wollen wir nur geklärtes
Abwasser dorthin leiten.» Kurz vor Ablauf der Lehrzeit galt es noch, die Lehr-
lingsprüfung zu bestehen.

Lehrabschlussprüfung

Eines Tages kam die Aufforderung, mich in der mech. Werkstätte Würth in Lich-
tensteig zu melden. Per Velo fuhr ich dem Toggenburg zu und meldete mich schlies-
slich in besagter Werkstätte an. Es war aber nur ein alter Mann da, der erklärte, dass
am Mittag der Herr Würth kommen würde, was auch richtig geschah. Herr Würth
erklärte, was ich alles zu tun bekomme und brachte mich gleich in die nahe Wirt-
schaft zum Hirschen, wo ich einquartiert wurde und auch gut aufgehoben war. Nach
dem Essen stand ich wieder in der Werkstätte, um gleich mit der Arbeit zu begin-
nen. Dass die Einrichtungen ganz primitiv waren, hatte ich schon am Vormittag ge-
sehen, aber nun stellte sich sogar heraus, dass ich zuerst Drehstähle anfertigen mus-
ste, denn es war praktisch nichts Brauchbares vorhanden. Dann ging es an die Dreh-
bank, einem ausgeleierten, alten «Schlitten», angetrieben von einem Wasserrad. Als
ich mit der Dreherei beginnen wollte, stand das Getriebe in regelmässigen Ab-
ständen fast still. Als ich der Sache nachging, sah ich, dass an dem unterschlächti-
gen Wasserrad zwei aufeinanderfolgende Schaufeln fehlten. Bei niederem Wasser-
stand stand es einfach still. Eine Reparatur des Wasserrades war unumgänglich.
Herr Würth war indessen längst wieder verschwunden, und der eingangs erwähnte
Mann sagte, dass er erst gegen Feierabend kommen werde.

Diese Wartezeit benützte ich, um Holz, Werkzeug und Nägel sowie Schrauben zu
suchen, die es für eine Reparatur brauchte. Als der Meister endlich kam, erklärte
ich ihm die Sachlage und anerbot mich, den Schaden zu beheben. Das musste ich
nicht zweimal sagen; es stehe alles, was vorhanden sei, zu meiner Verfügung. Der
folgende Vormittag verlief mit Schreinerarbeit, die gut ausfiel, so dass das Rad wie-
der richtig rund drehte. Nun konnte ich meine vorgesehene Prüfungsarbeit be-
ginnen: Zehn Ablaufröhren für Brunnentröge. Der eine Teil, der in den Boden des
Troges einbetoniert wird, bekam einen Innenkonus, und das etwa fünfzig Zenti-
meter lange Ablaufrohr bekam an einem Ende einen entsprechenden Konus, so
dass es leicht in den anderen Teil eingesteckt und ebenso wieder herausgezogen
werden konnte. Somit eine leichte Sache, die auf einer guten Drehbank in kurzer
Zeit mühelos gemacht gewesen wäre. Aber auch so ging es verhältnismässig gut,
und der Meister war sehr zufrieden. Als weiteres kam eine schwierigere Aufgabe:

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Für eine Sägerei musste ein Blockhalter repariert werden. In eine mehr als faust-
grosse Messingmutter musste ein Flachgewinde geschnitten und eine etwa einen
Meter lange Spindel dazu passend gemacht werden, mit einem am oberen Ende
befindliches Vierkant für die Kurbel. Auf der neuen Drehbank bei Spühl wäre al-
les eine interessante Arbeit gewesen, aber auf diesem Monstrum, das mir hier
zur Verfügung stand, war es schon ein Kunststück. Nun, nennen wir es Zufall, aber
das Kunststück gelang wider Erwarten recht gut. Herr Würth machte mir gleich den
Vorschlag, bei ihm zu bleiben, er hätte Arbeit genug für mich, und ich müsste es
schön haben bei ihm. Ich musste ihm aber absagen, mit der Begründung, dass ich
ja noch die Lehre fertig zu machen hätte, und dann wollte ich noch in die Fremde
ziehen. Als Trost anerbot ich mich, ihm die Drehbank und die Bohrmaschine in-
stand zu setzen, wenn er bei Herrn Spühl um Erlaubnis fragen wolle. So kam es,
dass meine Prüfung statt zwei bis drei Tage, volle zwei Wochen dauerte. Wieder in
St. Gallen wurde ich trotz meinem Lehrbrief mit lauter «Sehr gut» arg getadelt;
da konnte ich lange sagen, Würth hätte ja um Erlaubnis gefragt. Schuld war ein-
fach ich, aber es war ja schon immer so gewesen. Bald kam der letzte Tag der Lehr-
zeit, der 9. August 1912, und somit der Abschied von den anderen Lehrlingen
und Arbeitern, von Bischof, Herrn Spühl Vater und Sohn Emil und vom ganzen Ge-
sellenhaus.

Vorerst ging ich für ein paar Tage heim nach Oberriet, suchte und fand aber bald
eine Stelle bei Gebrüder Bühler in Uzwil. Damit begann wieder ein weiterer Ab-
schnitt im Leben. Es begannen die Wanderjahre.

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Wanderjahre

Uzwil Am 25. August 1912 zog ich also nach Uzwil und stellte mich beim Hauptportier
vor, der mich an Meister Müller wies. Auf meinen Einwand, dass ich für die Ab-
teilung Zieglermaschinen gefragt hätte, bekam ich Bescheid, dass es dort keine
freie Stelle habe, und wurde auf später vertröstet. So kam ich also in die Abteilung
Mühlenbau. Diese Arbeit sagte mir aber gar nicht zu: viel Holz und Blech, und
dafür wenig Präzision. Eine Zeit lang hoffte ich, doch in eine andere Abteilung
versetzt zu werden, aber es wurde nichts daraus. Da es mir auch sonst nicht gut ge-
fiel in Uzwil, wollte ich etwas anderes suchen. Der Zufall kam mir dabei zu Hilfe,
als ich vernahm, dass Paul Kühne, der etwas vor mir aus der Lehre gekommen war,
in Winterthur in der «LOKI» arbeitete. So fuhr ich eines Tages dorthin, fragte nach
Arbeit und wurde angestellt, Abteilung Motoren-Bau, mit Beginn nach Ablauf der
Kündigungsfrist bei Bühler. Meister Müller bedauerte, dass ich wieder weggehe,
er hätte mir gerade einen besser bezahlten Accord zuteilen wollen. Nun, diesen
bekam jetzt halt ein anderer. Zum letzten Zahltag kam noch ein Zeugnis mit den
Angaben, von wann bis wann ich gearbeitet hätte, dass man zufrieden mit mir
gewesen sei und dass der Austritt auf eigenen Wunsch erfolgt sei, auf einem
Einheitsformular, wie es alle Mitglieder des Verbandes Schweizerischer Maschi-
nenindustrieller benützten.

Winterthur

In Winterthur fing ich am 28.10.1912 an, und zwar in der Abteilung Montage. Mei-
ster Friederich und Vorarbeiter Wyler waren meine Vorgesetzten. Hier war die Ar-
beit nach meinem Geschmack. Es waren gerade zwei Gasmotoren in Arbeit, rich-
tige Maschinen mit hoher Präzision. Als unsere zwei Gasmotoren fertig waren,
wurden sie zur Abnahme gemeldet; ein Kontrolleur prüfte alles auf das genaue-
ste, um dann den Kontrollstempel einzuschlagen. Nun waren wir entlastet. Ein
grosser Laufkran, der durch die ganze Halle fahren konnte, führte die Maschinen
von uns weg auf den nebenan liegenden Parkplatz, wo sie provisorisch montiert
und vom Ingenieur einreguliert und geprüft wurden.

Wir erhielten darauf einen grossen Dieselmotor zur Montage und dazu im Ak-
kord, der allfällige Überschuss werde auf uns drei verteilt. So war ich nun von An-
fang an am Bau so einer Grossmaschine dabei! Da gab es allerhand Neues zu ler-
nen, z.B. wie man sich mit dem Kranführer verständigt, der hoch oben plaziert ist.
Die oft tonnenschweren Bestandteile werden mit Hilfe des Krans an Ort und
Stelle gehoben. Es würde zu weit führen, all das zu schreiben. Uns zugeteilt wurde
ein Russe aus Baku am Schwarzen Meer. Es war ein kleiner, blonder Mann, der
ziemlich gut deutsch sprach, mit hoher Fistelstimme. Er sagte, dass er als zukünf-
tiger Maschinist bei unserem Motor dessen Aufbau von Grund auf mitverfolgen
müsse. Er war sehr aufmerksam und machte viele Notizen. Eines Tages wurde eine
Anzahl Eisenfässer, die russisch angeschrieben waren, angeliefert, und unser
Russe weinte beinahe, als er uns erklärte, die Fässer kämen aus Baku. Diese
enthielten Nafta, das dort sozusagen als Abfallprodukt der Rohoelraffinerie
entstehe und als billiger Brennstoff eben unserem Motor als Nahrung
dienen müsse. Diese Fässer weckten grosses Heimweh in unserem Russen.
Später, als der Motor in den Prüfstand kam, musste er dann lernen, den dick-
flüssigen schwarzen Dreck aus den erwähnten Fässern zu verdauen und in
Kraft umzusetzen, welches den Ingenieuren noch allerlei Rätsel aufgab. Diese
wurden aber gelöst, und der Motor lief fast rauch- und geruchlos und leistete auch
die berechneten PS. Zur Abnahme kam noch ein weiterer Russe aus Baku. Die

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Begrüssung mit Umarmung und Küssen war geradezu rührend, ist doch solches in
unseren Breiten nicht üblich.

Wir erhielten in der Folge wieder einen grossen Diesel in die Arbeit. Ich erinnere
mich noch gut. Als das Schwungrad per Kran gebracht wurde, konnte ich nicht an
die Nabe hinauflangen, was also heisst, dass der Durchmesser dieses Rades fünf
bis sechs Meter betrug. Ich habe hier viel gelernt. Neben uns war der Prüfstand,
wo ebenfalls allerlei zu hören und zu sehen war, was mein Interesse erweckte.

Mein Zimmer hatte ich bei einer Familie Furrer. Der Mann war Kesselschmied bei
Sulzer. Es waren gute Leute, und ich war bei ihnen fast wie daheim. Zum Essen
ging ich wie Paul in den Grenzhof. Der Wirt war Dreher bei uns, und seine Frau
und ihre Mutter führten die Wirtschaft und Kostgeberei. Winterthur war damals
eine Industriestadt mit vielen Fabrikarbeitern, von denen die meisten im Metall-
arbeiter-Verband organisiert waren. Nach einigen Monaten kam ein Vertrauens-
mann des Verbandes zu mir, um mir den Beitritt zur Organisation nahe zu legen.
Ich erklärte ihm, dass ich eben im Begriffe sei, ins Ausland zu reisen; dadurch hatte
ich meine Ruhe. Wenig später hatte Paul Differenzen mit seinem Meister; er er-
klärte, dass er am Samstag kündigen werde. Wir verabredeten uns, dass wir mit-
einander ins Ausland gehen wollten. Mir fehlten allerdings noch drei Wochen, bis
ich ein halbes Jahr bei der Firma gearbeitet und somit Anrecht auf ein Zeugnis
hatte. Wer weniger als sechs Monate hatte, bekam nur einen Arbeitsausweis. Da
Paul keinen Tag länger warten wollte, machten wir ab, dass er vorausgehen und
mir berichten werde, wo wir uns treffen könnten. Während der Kündigungszeit
holte ich die Schriften ab, zahlte meine Steuern; unnötige Sachen schickte ich heim
mit dem Bericht, dass ich auf die Walz gehen werde. Ob der Vater wegen der Stel-
lenwechslerei erfreut sei, fragte ich nicht lange.

Auf der Walz

Am 3. Mai 1913 war also meine Winterthurer Zeit vorbei. Von Paul war eine Karte
gekommen mit der Mitteilung, ich solle im Hotel «Federale» in Mailand vorspre-
chen, wo dann wieder Bericht von ihm sei, er fahre jetzt nach Genua. Ich packte
also meinen Rucksack und löste ein Billett nach Mailand einfach. In Göschenen
gab es einen kurzen Aufenthalt, den ich benützte, um mir vom Dichter Ernst Zahn
persönlich einen Teller Suppe schöpfen zu lassen; er war damals Wirt im Bahn-
hofbuffet dort.

Italien

Bald aber ging es weiter Mailand zu, wo ich abends ankam. Als ich aus dem Bahn-
hofgebäude kam, glaubte ich fast an einen Überfall, denn eine ganze Schar Hotel-
portiers lief auf uns Reisende zu, um uns ihr Hotel zu empfehlen. Ich erklärte auf
deutsch, dass ich ins «Federale» gehen werde, und schon kam der Portier dieses
Hauses und sagte, ich könnte mit ihm gehen, er wolle nur noch sehen, ob noch mehr
Gäste zu ihm kommen werden. Es war nicht weit zum Hotel, wo ich dann ein
Zimmer bestellte. Bericht von Paul war noch keiner da. Darauf erklärte ich, dass
ich noch etwas die Stadt ansehen wolle. Die Wirtin, eine währschafte Bernerin,
machte mich noch auf allerlei aufmerksam und sagte mir, im schlimmsten Fall solle
ich das Tram Nummer 4 nehmen, dieses führe unfehlbar am «Federale» vorbei; und
es habe eine Haltestelle gerade vor dem Hotel. Sicher hatte sie mich als Greenhorn
taxiert. Die Stadt fand ich sehr schön und äusserst lebhaft. Passiert ist nichts, und
wenn mich jemand anredete, sagte ich «kan net verstan» auf italienisch und blieb
ungeschoren. Um den Tip der Frau war ich aber doch noch froh, hätte ich doch den
Weg zurück kaum mehr gefunden. Um im Tram Nr. 4 nichts reden zu müssen, zahlte
ich mit einem Franken und erhielt eine ganze Hand voll Kupfermünzen, soge-
nannte Soldi, zurück. Zuerst glaubte ich der Schaffner, hänge mir da etwas an,

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sah dann aber bald, dass allgemein mit Kupfergeld bezahlt wurde, und war wieder
beruhigt. Bald sah ich mein Hotel auftauchen. Am folgenden Morgen brachte die
Post eine Karte von Paul mit dem Vermerk: «Erwarte dich am Bahnhof in Ge-
nova.» Einfacher geht es nicht mehr.- Die Wirtsleute suchten mir einen guten Zug
aus dem Fahrplan, und weiter ging es nach Genua. Da es zu regnen begann, mus-
ste ich feststellen, dass ausgerechnet über meinem Platz das Wagendach undicht
war, so dass ich einen anderen suchen musste. Das Wagenmaterial der italienischen
Bahnen hielt eben keinen Vergleich aus mit dem der SBB.

Genua

Da wir der Zeit nach am Ziel sein sollten, hielt der Zug an und alles stieg aus; ich
glaubte in Genua zu sein. Zufällig sah ich dann, dass die Station mit «San Sebasti-
ano» angeschrieben war, und mit einem Satz sprang ich wieder auf den Zug, der
gerade wieder abfuhr. Bald darauf liefen wir dann doch am Ziel ein; ich ging ein-
fach dem grossen Haufen nach und fragte mich, wie ich in diesem grossen Bahn-
hof meinen Freund treffen würde. In Italien gab es die sogenannten Perronsper-
ren, an denen jeder vorbei gehen musste, und wo auch die Billette kontrolliert wur-
den. Paul wird sich gesagt haben, wie weiland Wilhelm Tell: «Durch diese Gasse
muss er kommen», und er kam auch. Wir sahen uns schon auf grosse Distanz und
freuten uns sehr über unser Wiedersehen.

Paul war in den letzten Tagen nicht müssig gewesen und hatte an vielen Orten nach
Arbeit gefragt, allerdings ohne Erfolg. Wir sahen uns die Stadt an. Im Hafen lagen
zwei grosse Ozeandampfer vor Anker, und es herrschte dort ein hektischer Be-
trieb. In der Stadt fuhr damals ein Pferdetram. Bei grösseren Steigungen konnte
dann ein Pferd allein den Wagen nicht mehr hinaufziehen. Aus diesem Grunde
stand unten am «Stich» ein schwereres Pferd, das dann vorgespannt wurde; mit
vereinten Kräften ging es dann bergauf. Oben angekommen machte der Wagen-
führer das Pferd wieder los, befestigte das Zugseil am Kummet, gab ihm einen
Klaps auf das breite Hinterteil und das Ross trottete allein wieder hinab, um am
gewohnten Platz auf das nächste Tram zu warten.

Riviera

Es wäre da ja noch vieles zu sehen gewesen, aber uns zog es weiter, unbekanntem
Ziel entgegen. Bis Ventimiglia fuhren wir noch mit der Bahn, das war an der
französischen Grenze. Der Grenzübertritt bot keine Schwierigkeiten. Von hier ab
gingen wir zu Fuss, immer dem Meer entlang, bei schönstem Wetter. Reife
Kirschen gab es in Hülle und Fülle, so dass ein Grossteil der Verpflegung frisch
vom Baum kam.

Bald dämmerte uns auf, dass die Welt merklich grösser sei als wir uns vorgestellt
hatten. Logische Folge dieser Erkenntnis war: äusserste Sparsamkeit mit unseren
paar Franken und nur das Allernotwendigste zu kaufen, in jeder Bude vorzuspre-
chen, ein paar Sous zu kassieren, wenn der Meister keine Leute brauchte, wohl
aber gemerkt hatte, dass die Moneten bei uns rar waren. Zuweilen lud man uns
auch zu einem Imbiss ein, und somit waren wir eigentlich schon richtige Tippel-
brüder, was uns recht Spass machte, zumal auch immer das schönste Wetter herr-
schte. An dem leicht ansteigenden Meeresufer liefen wir immer wie Bahn und
Landstrasse parallel zum Wasser. Wir passierten die Grenze zu Monaco und ka-
men in die Hauptstadt Monte Carlo. Es war eine sehr schöne Stadt, und mitten in
einem schönen Park stand das Spielkasino, das zu betreten uns höflich, aber be-
stimmt verwehrt wurde. Ohne viel Geld war man hier fehl am Platz. Wir zogen wei-
ter Richtung Marseille, tagelang das gleiche Bild. Hie und da gab es Gelegenheit,
mit einem Fuhrwerk ein Stück weit zu fahren, aber zu einer Unterhaltung mit den
Leuten kam es nie, wir verstanden kein Wort, die sprachen offenbar einen Dialekt.

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Die Fuhrwerke waren immer zweirädrige Wagen mit mannshohen Rädern und ei-
nem Muli zwischen zwei Landen eingespannt. Ausser Brot kauften wir Obst und
Salami, was unsere Kasse nicht allzusehr belastete. Auf diese Weise ging es über
St. Tropez und Nizza Marseille zu, das wir in gut einer Woche erreichten.

Marseille

Grossen Eindruck machte uns hier die Hauptstrasse der Stadt, «Cannebière» ge-
nannt, eine von lauter Geschäften und Hotels eingesäumte breite Strasse mit sechs
Tramgleisen und mit sehr breiten Trottoirs. Auf diesen spielte sich bei schönem
Wetter der Geschäftsverkehr ab; die Restaurants besetzten fast die ganze Breite
mit Tischen und Stühlen. Trotz «Ebbe» konnten wir es uns nicht verkneifen, ein
Bier zu kaufen und dabei den enormen Verkehr zu beobachten. Beim Zahlen lern-
ten wir zum ersten Mal «Service inbegriffen» kennen. Noch nie hatten wir einen
so grossen Aufmarsch an Menschen aller Länder gesehen in Hautfarben von weiss
bis schwarz, über gelb, rot und braun, vielfach noch in ihrer Nationaltracht.

Hauptsächlich im Hafengebiet herrschte ein Völkergemisch, das, wenn man es
nicht selber gesehen hat, kaum vorstellbar wäre, dazu gab es Typen, denen man
den Verbrecher von weitem ansah. Wir bekamen es nachts mit einem richtigen Un-
behagen zu tun, wussten wir doch, wie zwei Drittel für die «Légion étrangère» ge-
schnappt wurden. Wir waren gar nicht begeistert für einen Job im «Siddi Barani».
Unser Nachtquartier war für drei Nächte dort unten, in den Wartesälen der P.L.M.
Zum Glück blieben wir unbehelligt von Agenten und Zuhältern. Um die Stadt und
ihre Bewohner einigermassen kennen zu lernen, blieben wir drei Tage lang dort,
und es war interessant, ich möchte fast sagen, aufregend, hauptsächlich im Hafen
mit den vielen Spelunken, in denen sich die Matrosen der vielen Schiffe austob-
ten und ihre Heuer wieder unter die Leute brachten, meist unter die Weibsleute.
Ausserhalb des Hafens, weit draussen, sah man die Insel If, auf welcher sich das
Drama des Grafen von Monte Christo abgespielt haben soll. Der Grund, warum
wir unsere Zelte schon wieder abbrachen, lag darin, dass unsere Mittel, die ja nie
gross gewesen waren, bedenklich schrumpften. Unrasiert und fern der Heimat,
wie oft hatten wir dies früher gesungen! Nun war es soweit, also zur Rhône und
ihrem Lauf entlang tagelang marschieren, oft durch öde Gegenden. Man hatte sich
nichts mehr zu erzählen, gab sich gegenseitig etwas auf die Nerven, und es entstand
so eine Art Koller. Als wir feststellten, dass es nach Lyon noch weit war, beschlos-
sen wir, das meiste verbliebene Geld in die Bahnfahrt dorthin zu investieren.

C.L.M. = Compagnie des chemins de fer de Paris à Lyon et à la Méditerranée

Lyon

Wir hofften, in Lyon endlich Arbeit zu finden, umsomehr als Paul die Adresse ei-
nes Bekannten besass, der als Verkehrsschüler einmal bei seinen Eltern gewohnt
hatte. Sofort nach unserer Ankunft suchten wir diesen Karl Hobi auf, aber er war
nicht mehr da, man kannte ihn noch, aber niemand wusste, wo er jetzt wohne. Am
nächsten Morgen suchten wir die «rue bas d'argent» auf, an welcher das Schwei-
zer Konsulat sei. Hobi war dem Konsul nicht bekannt; er gab uns die Adresse der
Einwohnerkontrolle von Lyon, sowie einiger Firmen, wo wir eventuell Arbeit fin-
den könnten. Finanzielle Hilfe gab er nicht. Auf dem Amt war Hobi gemeldet. Wir
bekamen die Adresse und suchten ihn dort auf; es war ganz ausserhalb der Stadt,
aber es war niemand daheim. Wir entschlossen uns zu warten, da es bald Abend
war. Zuerst kam ein Jesuit daher und ging in das Haus (einem besseren Schopf)
und kam gleich wieder heraus, um die Hühner zu füttern. Wir fragten ihn mit un-
serem holprigen Französisch nach Karl Hobi. Prompt antwortete er uns in rein-
stem Deutsch, dass dieser bald kommen werde, und richtig kam er bald daher.
Nach der Begrüssungsszene klagten wir ihm unsere Misere. Hobi anerbot sich,
einen Tag mit uns in der Stadt auf Arbeitsuche zu gehen, hegte aber im voraus

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grosse Bedenken, da es z.Z. flau sei in Frankreich. Dass er selbst nicht auf Rosen
gebettet war, hatten wir bald herausgefunden. Platz für uns zwei hatten sie auch
nicht, aber ganz in der Nähe, am Ufer der Rhöne, stand ein Schuppen, der als Ma-
gazin einer Hühnerfarm diente. Dort erklärte er, könnten wir schon unterschlüp-
fen, was wir sofort befolgten. Der Schopf war nicht geschlossen, und im Innern wa-
ren Säcke und Futtermittel und dem Geruch nach auch Fischmehl dabei. Leere
Säcke und Ratten hatte es zur Genüge. Das war für einige Nächte unser Logis. Am
Morgen spähten wir etwas herum, um unbemerkt verschwinden zu können, wu-
schen uns in der Rhöne und zogen los, nach Arbeit zu suchen.

Geldmangel

Lyon ist eine Industriestadt; Textilmaschinenfabriken gab es viele, aber Arbeit für
zwei junge Mechaniker fehlte. Es kam der Moment, wo wir, wie man immer so
schön sagt, mittellos wurden, und der letzte Weg war ein Brief nach Hause. Paul
hatte aber nichts zu erwarten, da er entgegen dem Veto seiner Eltern eben doch
auf Reisen gegangen war. Ich hatte es in dieser Beziehung besser, hatte ich doch
gar nicht gefragt. Auf einem Postamt schrieb ich also einen Brief an die Familie
Zäch, Kellen, Oberriet mit dem Gesuch um Geld. Da ich aus Uzwil und Winterthur
der Mutter etwas Erspartes abgegeben hatte, hoffte ich bestimmt auf Erfolg. Mit
dem Postbeamten machte ich ab, dass ich das erwartende Geld poste restante er-
halten werde und es auch ausbezahlt bekomme. Überdies hatte ich noch meinen
Heimatschein als Ausweis. Nach drei Tagen hielten wir erstmals Nachschau, aber
es war nichts da, auch am vierten und fünften Tag bekamen wir schlechten Be-
scheid. Fast wären Zweifel an der Hilfsbereitschaft meiner Mutter aufgekommen,
aber oha, am folgenden Tag lachte der Beamte schon von weitem und zahlte mir
hundert französische Franken aus. Nun war die Sache halb so schlimm. Der Stim-
mungsbarometer stieg wesentlich an, trotzdem wir noch immer keine Arbeit ge-
funden hatten. Wir nahmen Abschied von Hobi, seinem Pater und unserem Logis,
dessen Fischgeruch mir heute noch in der Nase liegt. Ursprünglich hatten wir ge-
plant, nach Paris zu fahren. Unsere Erfahrungen hielten uns aber davon ab und
wir wanderten der Heimat zu, d.h. vorerst nach Genf. Nach etwa einer Woche lang-
ten wir dort an und fanden zufällig eine Herberge, wo wir für wenig Geld ein Dop-
pelbett bekamen. Im gleichen Zimmer lag noch ein weiterer Gast, der die ganze Nacht
jammerte. «Oh, mes pieds!» höre ich ihn heute noch rufen. Am Morgen stell-
ten wir fest, dass ihn seine Beine nicht mehr schmerzten, er war tot. Dieses mel-
deten wir dann unten und nahmen unser Morgenessen ein, um danach auf Ar-
beitsuche zu gehen bei «Pic-Pic», bei Sécheron, bei Martini und vielen anderen
mehr, aber überall dasselbe wie vorher in Italien und Frankreich. Paul glaubte, in
Yverdon bei den SBB-Reparaturwerkstätten unbedingt Arbeit zu bekommen.
Also los nach Yverdon! Aber auch hier das gleiche Lied wie überall.

St. Aubin

Nun gingen wir dem Neuenburgersee entlang nach St. Aubin, wo eine Motoren-
fabrik sein musste, wie mir von einem Inserat im «Maschinenmarkt» her noch in
Erinnerung war. Ich hatte mich nicht getäuscht: Ganz am Ufer des Sees stand eine
grosse Bude, Fritz Moser, Motoren, St. Aubin. Bei unserem Eintreffen trat gerade
ein Mann aus der Türe, und wir fragten, natürlich auch wieder auf französisch,
nach dem Büro. Zu unserem Erstaunen sagte er: «Warum, was weiter?»
Wir brachten unser Anliegen vor, worauf er erklärte, einen könnte er anstellen,
wir aber sagten, wir seien schon lange zusammen und möchten weiter zusammen
bleiben, da zeigte er Freude und stellte uns beide ein. Auf dem Büro mussten
wir dann noch die Zeugnisse zeigen und wir bekamen eine Adresse, wo Zimmer
und Essen zu finden seien. Es stellte sich heraus, dass wir gerade Herrn

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Moser in die Hände gelaufen waren, was wir erst fast nicht glauben konnten, hatte
er doch eine grüne Schürze an und einen trug Seehundschnauz, so dass wir einen
Handlanger vermuteten.

Bei einer Familie Chonet also kamen wir in Kost und Logis. Er war Fischer und
seine Frau und Tochter führten die Pension. Sofort schrieben wir heim um Wäsche
und Kleider, und am folgenden Morgen fingen wir an. Paul kam zu Meister Bar-
besat im oberen Stock und ich zu Vorarbeiter Benoit im ersten Stock. Hergestellt
wurden Motorradmotoren verschiedener Typen in Seriearbeit. Alles ging sehr gut
bis zum ersten Zahltag. Da gab es dann eine arge Enttäuschung: 45 Rappen Stun-
denlohn! Wir gingen sofort auf das Büro und gaben unsere Enttäuschung bekannt.
Da man mit uns zufrieden sei, gebe es in der Folge 60 Rappen; damit seien wir dann
sie [die] höchstbezahlten Arbeiter und dürften dies nirgends bekannt geben. Wohl war
das immer noch weniger als wir in Winterthur verdient hatten. Da wir abgebrannt
waren und noch gut in Erinnerung hatten, wie es ist, wenn man gar nichts hat, blie-
ben wir. Als mein Koffer von daheim ankam, lag ein Brief von meiner Mutter da-
bei, worin unter anderem die Mitteilung stand, dass dann noch von Winterthur eine
Akkordabrechnung von Fr. 90.- gekommen sei, die sie aufgerundet nach Lyon ge-
schickt habe. Ich hatte bei meinem Austritt aus der «Loki» eine Adresse angeben
müssen, wohin man mir evtl. Akkordgelder nachsenden könne. Umso besser,
dachte ich mir. Es gefiel mir im Welschen sonst recht gut. Oft ging ich mit Père
Chonet abends noch auf den See, um Netze zu setzen, und als Entschädigung
wurde dann das jeweilige Nachtessen nicht berechnet. Wenn wir Lust hatten zu se-
geln, konnten wir mit seinem Fischerboot «Togo» ausfahren, sofern er es nicht
brauchte.

Rasenmäher

Eines Tages wurde ich auf das Büro gerufen. Man stellte mich einem Herrn Ma-
gnin aus Genf vor. Dieser hatte die Idee, eine Motormähmaschine zu bauen und
stellte Herrn Moser grosse Lieferungen für Motoren in Aussicht,wenn er ihm
helfe, einen Prototyp zu bauen. Da Paul und ich die einzigen eigentlichen Mecha-
niker im Betrieb waren (die übrigen waren lauter angelernte Leute, jeder auf sei-
ner Maschine ein Spezialist, und jeder machte jahraus, jahrein immer das gleiche)
fiel die Wahl auf mich, um diese Maschine zu bauen. Teilweise aus vorhandenen
Bestandteilen wurde ein Fahrgestell zusammengebastelt. Aber um das Getriebe
zu bauen, brauchte es schon einen versierten Fachmann. Das Gehäuse dazu kam
aus einer Giesserei aus Genf und musste jetzt bearbeitet werden. Lager, Wellen
und Zahnräder mussten erstellt und bearbeitet werden, was natürlich viel Arbeit
gab. Aber endlich nahm das Ding Gestalt an, und noch bevor es Schnee gab, konn-
ten wir ein Probemähen vornehmen. Das gab ein Aufsehen in St.Aubin, als ich mit
Geknatter den Mäher auf eine Wiese führte, wo viele Luzernenkleebüschel nach-
gewachsen waren. Diese galt es nun abzumähen. Heute noch sehe ich, wie diese
Kleestengel abgezwickt wurden und dabei lustig hochsprangen. Nach einiger Zeit
stieg blauer Rauch aus dem Gelenk, das den Messerbalken hin- und herbewegen
musste. Es lief heiss, was uns aber nicht gross störte, eine leicht zu behebende Kin-
derkrankheit. Die Hauptsache war, dass die Maschine zufriedenstellend arbeitete,
und hocherfreut kehrten wir wieder in die Bude zurück, wo schon ein Photograph
bereit stand und die Maschine sowie alle Beteiligten auf die Platte bannte. Ich habe
das Bild heute noch, und wenn ich es sehe, ruft es immer wieder angenehme Er-
innerungen wach. Ich erhielt von Herrn Magnin noch Fr. 20.-; wie er es mit Herrn
Moser abkurte, weiss ich nicht. Er verschwand samt seinem Mäher, und ich habe
nie mehr etwas von ihm gehört. Heute hat es zu Tausenden solche Mäher, selbst
jeder Kleinbauer besitzt einen solchen.

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Französisch

Selbstverständlich wollte ich französisch lernen. Was war da naheliegender als ei-
nen Schatz für billige Sprachstunden zu suchen? Der Einfachheit halber hielt ich
mich an Lilette, unsere Fischerstochter: die war gerade im Hause, und ein hüb-
sches, fröhliches Meitli war es auch noch. Aber bald sah ich, dass Paul die genau
gleichen Absichten hatte. Aber Lilette geteilt durch zwei, das konnte nicht gut ge-
hen. Fast wäre unsere Freudschaft gefährdet worden, da hat sich aber das Schick-
sal wieder einmal zu meinen Gunsten entschieden, und im richtigen Moment be-
kam Paul aus Rorschach einen Brief, dass er dort, gemäss einer Bewerbung, nun
anzutreten habe, um Lokiführer zu werden. So kündigte Paul und zog an den Bo-
densee, und Karl blieb am Neuenburgersee und lernte intensiv französisch. An-
fangs musste ich noch mit den Händen reden, aber ich machte gute Fortschritte.

Weil Paul fortzog, musste ich das Zimmer mit einem Unbekannten teilen, was mir
nicht behagte und ich zu Frl. Jörg übersiedelte. Sie war eine ältere, sehr feine
Dame, die sich mit Zimmervermieten und Nähen durchbrachte. Da es Winter war,
lud sie mich abends in ihre geheizte Stube und stellte mir das Feuille d'Avis de
Neuchätel zu Verfügung, damit ich die Sprache lerne. Sonntags bei Lilette und die
Woche durch daheim, an jedem Ort ganz verschiedene Themen - wenn das nicht
eine gute Allgemeinbildung gab! Schade, dass die damals erworbenen Sprach-
kenntnisse später verkümmerten.

Couvet

Im folgenden März regte sich aber der Wandervogel in mir aufs neue, und ich zog
nach Couvet ins Val de Travers und fing bei Dubied, der bekannten Fabrik für
Strickmaschinen, zu arbeiten an. Ich hatte keinen guten Tausch gemacht, die Ar-
beit sagte mir nicht zu, auch das Arbeitsklima war dort nicht gut. Kost und Logis
hatte ich im Hotel «Au petit Marranis». Das wäre soweit schon recht gewesen, aber
die Gelegenheit, Geld auszugeben war zu gross, oder der Lohn zu klein. Couvet
ist nicht weit von der französischen Grenze entfernt. Bei Les Verrieres ist der Zoll
und nicht weit davon Pontarlier, ein richtiges französisches Industriestädtchen,
schmutzig in allen Richtungen. Wir fuhren öfters dorthin, aber nie in Sonntags-
kleidern. Da gab es allerhand zu erleben. Dort versuchte ich auch das erste und
einzige Mal den in der Schweiz verbotenen Absinth. Er dünkte mich nicht gut;
dafür sah man dort deutlich, warum er in der Schweiz gesetzlich verboten war. Er
ist eher Gift als Getränk.

Heimkehr

Da ich schon lange nicht mehr daheim gewesen war, in Bern die schweizerische
Landesaustellung eröffnet wurde und allgemein etwas Mieses in der Luft lag, kün-
digte ich. Ich zog vorerst nach Bern, wo ich die Ausstellung besuchte. Zufällig traf
ich dort meinen Schulkameraden Max Kolb und seine Schwester. Max überredete
mich, in Bern, wo er jetzt arbeitete, etwas zu suchen. Ich sprach in einigen Firmen
vor, aber es gab nichts, und ich fuhr Richtung Rheintal weiter. In Sargans hatte
ich keinen Anschluss in Richtung Buchs und benützte die Zeit für einen Besuch
der Maschinenfabrik Landquart. Hier war es gerade so, als ob man auf mich ge-
wartet hätte. Der Werkmeister namens Trachsel suchte einen tüchtigen Maschi-
nenschlosser, um ihm die gerade erfundene runde Messerwelle für Holzhobelma-
schinen im Accord zu übergeben. Ich wollte gleich am anderen Tag beginnen,
beschloss dann aber, dass ich zuerst wieder einmal heim wolle, und wir machten
auf den kommenden Montag, den 22.06.1914 ab. Er bot mir an, bis dann für Kost
und Logis zu sorgen. Wie abgemacht kam ich nach einem kurzen Besuch daheim
wieder nach Landquart. Quartier hatte ich im nahen «Freihof». Im Geschäft

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begann ich mich auf die vollständig neue Arbeit einzustellen und versprach mir al-
lerhand von meinem neuen Job, aber es sollte alles anders kommen!

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Krieg 1914 -1918

Landquart

Generalmobilmachung! Alles wurde auf den Kopf gestellt. Sämtliches Militär
musste einrücken, so auch der Sohn und der Knecht unserer Kostgeberin, die als
Witwe mit zwei Töchtern und einem Sohn Wirtschaft samt Küche und eine grosse
Landwirtschaft betrieb. Im Geschäft wurde erklärt, dass alle Bestellungen sistiert
würden, so dass der Betrieb bald eingestellt werden musste. Von einem grossen
Tisch Pensionäre blieben noch ein Aargauer namens Baumann und ich zurück,
alle anderen mussten einrücken oder gingen sonstwie fort. Wir zwei wurden mit
Frau Dolf, unserer Wirtin, einig, dass wir Knecht und Sohn ersetzen wollten. Es
stellte sich heraus, dass Baumann auch noch melken konnte. Nun wurde mit ver-
einten Kräften fertig geemdet, die Getreideernte besorgt, ebenso die Obst- und
Kartoffelernte. Dann hiess es mosten, Birnen dörren und auch den Stall und das
Vieh besorgen. Überdies bot uns die Gemeinde Igis noch zusätzlich als Flurwäch-
ter auf und teilte uns der Feuerwehr zu. Also ein vollgerütteltes Mass an Arbeit
und Pflichten. Im Oktober kam dann viel Militär heim in den Urlaub, so auch der
Sohn und der Knecht vom «Freihof». Wir zwei waren nun wieder frei und «verzo-
gen» uns. Ich fuhr vorerst nach Oberriet, wo ich gerade recht kam, den [dem] Sepp bei
der ausführlichen Revision der Ziegelmaschinen zu helfen, eine Gelegenheit,
meine Kenntnisse und Erfahrungen unter Beweis zu stellen. Gegen Ende des Jah-
res war aber das Wichtigste gemacht. - In grossen Inseraten wurde von der deut-
schen Organisation «Invalidendank» Personal aller Branchen gesucht, unter hoch-
klingenden Angeboten. Sofort beantragte ich einen Pass und eine Ausreisebewil-
ligung, die ich auch prompt erhielt, dazu noch ein Visum vom deutschen Konsulat.
Schon war ich reisefertig und fuhr am 26.12.1914 über Friedrichshafen nach Stutt-
gart. Dort suchte ich das Büro «Invalidendank» auf und erhielt eine Empfehlung
an die Daimler-Motorengesellschaft, Untertürkheim und eine Fahrkarte nach
dort.

Daimler

Kaum hatte ich mich beim Hauptportier angemeldet, wurde ich von diesem in die
Flugzeugmotorenabteilung gewiesen. Bei dieser Gelegenheit bekam ich einen Be-
griff von der Grösse dieser Firma. die damals ca. 5000 Arbeiter beschäftigte. Nach
langem Suchen und Nachfragen kam ich dann ans Ziel und stellte mich bei dem
Betriebsleiter Ing. Mölpert vor, der nach der Einsicht in meine Zeugnisse mich in
die Abteilung Montage einstellte, wo ich einem Gruppenleiter namens Rummel
zugeteilt wurde. Da ich noch eine Unterkunft suchen musste, ging ich den gleichen
Weg zurück, um beim Portier eine Adresse für ein Logis zu erfragen. Da es viele
Soldatenfrauen und Witwen gab, die mit Zimmervermieten ein paar Mark ver-
dienen wollten. hatte ich grosse Auswahl und fand bei einer Frau Frech ganz in der
Nähe des Haupteinganges zur Fabrik ein sauberes Zimmer und gegenüber auch
eine Kostgeberei. Am folgenden Morgen, den 28. Dezember 1914, fing ich als Flug-
motoren-Monteur an zuarbeiten. Was sich nun in den folgenden zwei Jahren al-
les ereignete, gäbe allein Stoff für ein Buch und kann in diesem Rahmen nur
gekürzt wiedergegeben werden.

Wenn man sich vorstellt: Ausland, Kriegszustand, Volk mit ganz anderer Menta-
lität als die bisher gewohnte, dann arbeiten in einem Grossbetrieb, überall Militär
und Kriegsgefangene. Alles war bis in die Details wohl organisiert, aber die
Ernährungsschwierigkeiten blieben. Da hiess es sich umstellen und sich anpassen
und die Öffnung unter der Nase gut im Zaume halten.

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Im Geschäft ging es ganz gut, und bald war ich eingearbeitet. Wir arbeiteten gut
zusammen, so dass wir überschüssige Zeit hatten. Um den Akkordlohn nicht zu
gefährden, mussten wir diese verbummeln. Es hatte eben viele Gruppen, die kaum
auf den garantierten Stundenlohn kamen, geschweige denn einen Überschuss er-
zielen konnten. Das Programm ging folgendermassen vor sich: Der Gruppenfüh-
rer übernahm einen Akkord (es waren immer zwei Motoren zu montieren), dabei
erhielt er ein Verzeichnis sämtlicher Bestandteile. Mit diesem Heft und einem
Rollwagen fuhr man nun zu den Magazinern und forderte alles an, von Schalter
zu Schalter, bis die ca. 1200 Teile gesammelt und auf der Liste abgestrichen waren.
Damit fuhr man zur Montagehalle und begann mit dem Zusammenbau. Der Ak-
kordpreis betrug pro Motor DM 57.— und der garantierte Stundenlohn 43 Pfen-
nige. Gut geführte und geübte Gruppen holten einen schönen Verdienst heraus,
andere kamen oft nicht einmal auf den Stundenlohn, der aber, weil garantiert, doch
ausbezahlt wurde. Wir verdienten jeder in 14 Tagen so ca. 240 - 250 Mark. Von die-
sem Betrag schickte ich immer einen Teil nach Hause, bis der Kurs der Mark noch
40 Rappen war. Später kaufte ich Wäsche und Kleider und legte noch einiges Geld
auf einer Sparkasse an. Da ich, wie schon erwähnt, mit Rummel gut zusammenar-
beitete, hatten wir immer überschüssige Zeit, die wir dann mit «Wandern» ver-
brachten. Das ging so: Einer von uns nahm irgendeinen Bestandteil an sich und
«reiste» durch die vielen Werkhallen, wie Dreherei, Automatensäle, Giesserei,
Schmiede, Reparaturwerkstätten usw. Wurde man befragt, was man zu tun habe,
zeigte man auf das mitgebrachte Werkzeug, das man zum Nacharbeiten oder Tau-
schen an die betreffende Abteilung zu bringen hätte, und immer lief die Sache gut
ab. Es wurden überall Spione vermutet, oft mit Recht. Auf solche Weise gab es Ein-
richtungen zu sehen, die einem normalerweise unbekannt geblieben wären.

gab das Zeichen «Alarm», worauf jeder sofort in den vorgesehenen Unterstand zu
rennen hatte, um dort das Zeichen «Endalarm» abzuwarten und dann wieder an
die Arbeit zu gehen. Einen echten Alarm gab es in meiner Zeit nur einmal, und
die verwendeten Bomben machten keinen nennenswerten Schaden.

Unter der Belegschaft gab es viele Kriegsgefangene, die für den Unterhalt und die
Reparatur der Werkzeugmaschinen zu sorgen hatten. Es war verboten, mit ihnen
zu sprechen, aber wenn man am Werkzeugschalter warten musste, gab es doch Ge-
legenheit für ein Gespräch. Das ganze Werk war militärisch bewacht, und auf den
Flachdächern waren Flakgeschütze aufgestellt und zum Einsatz bereit.

Der Mann meiner Logisfrau war ganz am Anfang des Krieges als vermisst gemel-
det, aber sie glaubte immer, er werde eines Tages wieder auftauchen.

An einem Sonntag kam sie aus der Kirche und erzählte, der Pfarrer hätte gesagt,
die Leute müssten alle Goldsachen abgeben, das Vaterland brauche Geld, ob ich
glaube, sie solle ihre paar Goldstücke abgeben. Da riet ich ihr, sie solle doch für
alle Fälle diesen Notpfennig für sich behalten. Zum Glück hat sie niemandem da-
von erzählt, sonst hätte dies für mich noch schlimme Folgen haben können. Mir
war damals schon klar, dass der Krieg für Deutschland so gut wie verloren war. Im
Betrieb fehlte es immer mehr an Material. Hauptsächlich fiel der Mangel an Ben-
zin, Öl und Fett, sowie Kupfer und Messing auf. Auch Personal wurde immer ra-
rer. Vielen Unabkömmlichen wurde der Urlaub nicht mehr erneuert, d.h. sie mus-
sten zum Militärdienst einrücken und fehlten dann in der Produktion. Bei diesen
«Unabkömmlichen» wurde oft Schwindel betrieben, was dann bei denen, die an
der Front waren, Unwillen erregte, so dass der Spruch umging: «Wilhelm zieh'
die Unabkömmlichen ein, sonst lassen wir den Franzmann rein». Ich wurde zum
Gruppenführer ernannt, was aber gar kein Vorteil war und höchstens mehr Arbeit
und Verantwortung verlangte, und an Stelle eines Fachmannes wurde mir eine Frau

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zugeteilt, die natürlich nur zu Handlangerdiensten fähig war, und überdies als
Kriegerwitwe immer das Weinen zuvorderst hatte. Anderseits wurde es mit dem
Essen immer prekärer. Es gab Brot-, Fleisch- und Fettkarten, die Zuteilungen wur-
den immer geringer, und bald hiess es: zwei Tage brotlos und zwei Tage fleischlos
und drei Tage trostlos.-

Hiermit dürfte die damalige Lage in ihrer Tragik geschildert sein, wie sie an der
Heimatfront war, von der militärischen war Ähnliches zu berichten. Von einem
Zufall wäre auch noch zu berichten. Als ich mich einmal im Duschraum entklei-
dete, kam einer zu mir und fragte: «Bist du nüd en Oberrieter?». Es stellte sich
heraus, dass er von Rüthi war, Hans Büchel hiess und mich von dort kannte. Er
zog später wieder aus. Dafür hatte ich in der Person eines Hans Nägeli aus Frau-
enfeld einen guten Freund, mit dem ich viel zusammen war und manches Aben-
teuer erlebte, woran ich mich noch oft und mit Freude erinnere. Da es bei Daim-
ler immer schwieriger wurde, kündigte ich dort und zog nach Feuerbach zur Firma
Robert Bosch.

Bosch

Diese suchte gerade erfahrene Motorenschlosser. Von der Armee wurde ihr ein
grosser Auftrag zugeteilt für die Lieferung von tragbaren Stromerzeugern für
Schützengrabenbeleuchtung und Radiotelegraphie. Für den elektrischen Teil wa-
ren sie ja zuständig, aber für den Bau von Benzinmotoren hatten sie wohl theore-
tische Kenntnisse, aber keine praktischen Erfahrungen. Es galt also hier, Kinder-
krankheiten zu beheben, und dies machte mir Freude, und der Erfolg blieb nicht
aus. Später wurde mir dann die Endfertigung dieser Aggregate übertragen, d.h. die
Motoren einlaufen zu lassen und die Leistung der daran gekuppelten Dynamos
auf einen Widerstand zu schalten und den Regler einzustellen, damit die Leistung
konstant blieb.

Jeweilen auf Monatsende musste eine bestimmte Anzahl fertige Maschinen abge-
liefert werden. Da kam ich dann oft in Zeitnot, wenn alles gegen Monatsende aus
der Montage kam und ich nur einen Prüfstand hatte. Aus diesem Grunde gab es
dann Sonntags- und Nachtarbeit, was mir auf die Dauer auch nicht behagte. Da
sah ich einmal sonntags im Bahnhof von Stuttgart einen erst wieder seit kurzem
verkehrenden Orientexpress, der über Bukarest nach Konstantinopel und zurück
verkehrte. Das war der Anlass, weshalb ich sofort an das Schweizer Konsulat in
Konstantinopel schrieb und anfragte, ob die Möglichkeit bestehe, dort Arbeit und
Aufenthaltsbewilligung zu bekommen. Prompt kam dann Antwort vom Deut-
schen Konsulat, das die schweizerischen Interessen vertrat. Einer Einreise stehe
nichts im Wege, und Arbeit für Leute aus der Metallbranche sei zur Genüge vor-
handen. Sie hätten bereits in dieser Richtung nachgefragt, und ich könnte in die
Reparaturwerkstätten der städtischen Verkehrsbetriebe jederzeit eintreten. Nun,
das war Musik für mich, und sofort erkundigte ich mich, wo ein Visum für die Ein-
reise in die Türkei zu holen sei.

Heimkehr

Gerade in diesen Tagen kam von Oberriet ein Brief von meinem Vater. Ich wäre
fast erschrocken; sonst war es immer die Mutter, die mir gelegentlich schrieb. In
diesem Schreiben teilte mir Vater mit, dass die Ziegelei zu wenig Aufträge, man
deshalb im Werk Hylpert den Betrieb stillgelegt und dafür eine Obsttrestertrock-
nerei eingeführt habe. Dass nun aber die Sache demjenigen, der sich damit befasse,
anfange, über den Kopf zu wachsen und man dort froh wäre über eine junge Kraft.
Der Brief war nicht im Befehlston, wohl aber in ziemlich energischer Wunschform
gehalten. Nun galt es, mich zu entscheiden. Balkan oder Rheinthal war die Frage.

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Dass Deutschland den Krieg verlieren werde, sah man damals schon, was dies aber
für Folgen haben werde, war schwer zu beurteilen. Nun, ich entschied mich für
Oberriet, und Ankara wurde aus dem Programm gestrichen. Am 16. Juni 1916 rei-
ste ich über Friedrichshafen heim und wurde vom Vater am Bahnhof abgeholt, wo
wir gleich in die Bahnhofswirtschaft einkehrten. Dort wurde ich natürlich fleissig
gefragt, wie es da draussen stehe. Dabei kam eben auch der Bericht wegen der
schlechten Ernährungslage zur Sprache. Die Wirtin, Base Lisette, offerierte mir so-
fort einen Schüblig. Ganz gewohnheitsmässig erklärte ich dann, dass ich keine
Fleischmarken besitze, was dann aber kein Hindernis war. Ich bekam den Schüb-
lig samt Bürli, und es war ein Götterfrass.

Trestertrocknerei

Daheim war bei allen die Freude gross, dass ich wieder da war, und des Fragens
war kein Ende. Am folgenden Tag besichtigte ich die erwähnte Trocknerei, wo mir
vorgejammert wurde, was alles für Schwierigkeiten entstünden und immer neue
Probleme auftauchten. Die Anlage war von einer Firma in Eschenz TG geliefert
worden und bestand aus einem Lufterhitzer mit Kohleheizung samt Ventilator und
aus fünf Darren à 8 m2 Dörrfläche. Das ganze bestand sozusagen aus lauter Kin-
derkrankheiten, kriegsbedingt und erstellt ohne jede Erfahrung auf diesem Ge-
biet. Gearbeitet wurde im Schichtbetrieb. Für Reparaturen und Anderungen blie-
ben also nur die 24 Stunden des Sonntags. Die Installationen der Beleuchtung wa-
ren mit Kriegsmaterial erstellt, also aus Aluminium- statt Kupferdrähten, und aus
Ersatzisolatoren, welche der entstehende Dampf zerfrass. Schalter und Fassungen
waren aus galvanisiertem Blech statt Kupfer und Messing; alles rostete, und Kurz-
schlüsse waren an der Tagesordnung. Alles in allem eine ärgerliche Sache, aber ich
hatte «die Geiss angenommen» und musste sie nun halt auch hüten. Der Obsttre-
ster wurde von einem Juden, Salomon Hirsch, geliefert und die getrocknete Ware
wurde auch von ihm abgenommen. Von seinem Standpunkt aus konnte nie genug
geliefert werden, und für technische Schwierigkeiten hatte er gar kein Verständ-
nis. Zudem fielen sein Sabbat und unser Sonntag nicht auf den gleichen Tag. Es
dauerte lange, bis er begriff, dass seine Telephonate am Sonntag bei uns gar nicht
beliebt waren. Er dagegen war am Samstag nicht zu sprechen. Ein ganz grosses
Problem war die Beschaffung des Heizmaterials, was die Sache von Salomon
Hirsch war. Koks wurde rar, Kohle und Koksgriess wären noch aufzutreiben ge-
wesen, konnten aber in unseren Öfen nicht verheizt werden, weil sie zu feinkör-
nig waren. Da kam mir in der Not die Idee, solchen Griess im Kollergang der still-
gelegten Ziegelei mit Nasstorf zu vermischen und durch die Ziegelmaschine zu
Torfziegeln zu pressen. Mein Vorschlag wurde von der Verwaltung sehr begrüsst.
Ich bekam den Auftrag, die Sache sofort auszuprobieren, und es ging besser als er-
wartet. Sofort begann ich nun auch das Brennmaterial selber zu machen, was mir
zwar nicht mehr Lohn, wohl aber mehr Arbeit brachte. Hirsch war natürlich hoch
befriedigt und sorgte sofort für grosse Mengen Kohlengriess. Wir lieferten den Torf
und die maschinelle Einrichtung. Dieses Mal hatten die christlichen «Juden» den
Hebräer in der Zange und ich glaube, es wurde noch nie so teurer Torf geliefert
wie damals, als wir das Brennmaterial selber herstellten, auf Kosten von Hirsch.
Lange beschäftigte ich über 70 Arbeiter und kam selber fast um von der vielen Ar-
beit. Es war alles nur improvisiert und brauchte nur zu halten bis zum Kriegsende,
das allenthalben sehnsüchtig erwartet wurde.

Ziegelei

Als dann 1918 der Zusammenbruch Deutschlands kam, ging bald die Trester-
trocknerei ein, und ich befasste mich schon mit dem Gedanken, wieder in die
Fremde zu ziehen. Da bekam ich vom Vetter Gottlieb, dem Geschäftsleiter der

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Ziegelei, den Auftrag, die Trestertrocknerei abzubrechen und die stillgelegte Zie-
gelfabrik wieder betriebsbereit zu machen. Er glaubte, dass das Bauwesen grossen
Nachholbedarf habe und deshalb Ziegel gebraucht würden. Somit fing ich an, al-
les Überflüssige abzubrechen und Platz zu machen, die vielen Trockengestelle wie-
der in Stand zu bringen, die Maschinen und den Brennofen zu überholen. Dieser
Ofen, der einige Jahre unbenutzt geblieben war, hatte, wie sich herausstellte, den
Schmugglern als Magazin gedient. Das Schmuggelgut wurde nachts unbemerkt im
Gewölbe dieses Ofens deponiert, um ebenso bei Nacht nach Bedarf wieder geholt
und über den Rhein transportiert zu werden. Zurückgelassene Säcke, ein Rest Fa-
denspulen und Schmugglerfinken brachten alles ans Licht. Es kam aber niemand,
um die Sachen zu holen, und es blieb ein Geheimnis, wer der Besitzer dieser Wa-
ren war. Über den Winter wurde ein grosses Lehmdepot angelegt, um im Frühling
dann zu Ziegelsteinen verarbeitet zu werden.

1920 wurde die Ziegelei wieder betrieben, aber die erhoffte Nachfrage nach Bau-
material blieb aus, und der Betrieb wurde abermals eingestellt. Durch den Tod von
Vetter Gottlieb 1921 wurden Ziegelei und Torfstreufabrik ihres kaufmännischen
Leiters beraubt. Dadurch kamen für seine Frau herbe Zeiten. Sie führte die Büros
bestmöglichst weiter, und Herr Jakob Büchel wurde als Präsident der Torfstreu
AG gewählt. Er offerierte mir eine Stelle als Werkmeister in dieser Firma.

Torfstreufabrik

Also wieder etwas Neues! Die Firma hatte während dem Kriege sehr gute Ge-
schäfte gemacht und war deshalb wohl fundiert. Mein Vater war einer der Grün-
der derselben und auch Aktionär. Dadurch, dass ich diese Stelle annahm, ergab
sich für mich die Basis für eine rechte Existenz und somit auch die Möglichkeit,
eine Familie zu gründen. Ich wurde von Herrn Büchel in die Branche eingeführt,
Hexerei war keine dabei; wichtig war es, Gutwetterperioden auszunützen, um
möglichst viel trockenen Torf unter Dach zu bringen. Die Herstellung der Torf-
ballen war einfach, längst wusste man aber, dass der Reisswolf im Laufe der vie-
len Jahre stark abgenützt war, aber von selbst gab es halt keinen neuen. Ich konnte
feststellen, wer der Hersteller dieser Maschine war, und auf Anfrage erhielten wir
Bescheid, dass Ersatz geliefert werden könne. Wir machten sofort eine Bestellung,
und nach einiger Zeit erfolgte die Lieferung. Die Montage war einfach. Der Er-
folg war frappant, es entstand wieder Torfmull, wie er gewünscht wurde, und die
Nachfrage stieg zusehends. Ein der Firma gehörendes Haus wurde für mich reno-
viert, und ich stahl mir Zeit, um zu heiraten. Es begann ein neuer Lebensabschnitt.

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Ehe und Familie

Da mir der Umtrieb einer herkömmlichen Hochzeit zuwider war und auch zu
tauer, kam ich mit meiner zukünftigen Frau, Friederike Wüst, überein, in Einsie-
deln zu heiraten. So fuhren wir im Juli 1919 per Bahn Einsiedeln zu. Damals ver-
kehrte täglich je ein Güterzug mit angehängtem Personenwagen das Rheintal hin-
auf und hinab, die Lokomotive wurde mit Spälten geheizt. Fast in jeder Station
wurde manövriert, so dass es auf den Abend zuging, als wir in das Tal des St. Mein-
rad kamen.

Einsiedeln

Im Hotel Storchen bestellten wir ein Zimmer und nahmen das Nachtessen ein.
Darauf besichtigten wir noch das Dorf und das Kloster. Als es Zeit wurde schla-
fen zu gehen, kam der Wirt mit uns, öffnete im oberen Stock ein Zimmer mit der
Bemerkung, das wäre für die Braut; mit mir ging er noch einen Stock höher. Ich
reklamierte, dass ich ein Zweierzimmer bestellt hätte. Er sagte aber kaltlächelnd,
dass in Einsiedeln Brautleute in getrennten Zimmern zu schlafen hätten, und öff-
nete auch für mich eine Türe, die ich aber gleich wieder zumachte und hinter ihm
über die teppichbelegten Treppen und Gänge einen Stock tiefer ging. Dieser Herr
hatte wahrscheinlich nicht mit einem richtigen Rheintaler gerechnet. Friederike
wollte mich zwar zuerst wieder hinaufschicken, aber ich glaube heute noch nicht,
dass es ihr ganz ernst dabei war. Am folgenden Morgen ging's dann hinauf zum
Kloster, wo ich bald Einblick bekam in den Grossbetrieb dieser Kirche. Schier je-
den Tag heirateten bis fast ein Dutzend Paare. Alles war wohl organisiert, so dass
die ganze Zeremonie wie am laufenden Band vor sich ging, überall und zur rich-
tigen Zeit waren die richtigen Funktionäre zur Stelle, und es sollte hier Angestellte
geben, die schon jahrelang ihre Finger nicht mehr strecken können vom ewigen
hohle Hand machen!

Als neu verheiratetes Ehepaar reisten wir zu meiner Schwester nach Mitlödi, wo
Lisa eine Lehre als Näherin machte. Zuerst fuhren wir mit der Sernftalbahn nach
Elm in das Bergsturzgebiet. Da überall noch Zustände waren wie im Krieg und
man für alles Märkli brauchte und auch keine Vergnügungsmöglichkeiten bestan-
den, fing die Langeweile bald an.

Die abgebrochene Hochzeitsreise

Ich machte meiner Frau den Vorschlag heimzufahren und die Hochzeitsreise auf
später zu verschieben, wenn das Reisen wieder mehr Genuss bereiten würde. Es
gab dann allerdings Opposition, aber am folgenden Morgen fuhr man doch heim.
Ich hatte meinen Freund Max Kolb engagiert, um unser Haus nachts zu bewachen,
weshalb er eben dort schlief. Da das Haus ausserhalb des Dorfes stand, wollte ich
doch während unserer Abwesenheit einen Wächter darin haben. Nun fing der All-
tag wieder an, und es fehlte wahrlich nicht an Arbeit und Umtrieben. Für Tante
Berta war die Geschäftsführung der Ziegelei und der Torfstreu AG auf die Dauer
zu streng und sie trat in Verhandlung mit Herrn Schmidheiny wegen Verkauf ih-
rer Ziegelei-Aktien. Er machte ihr ein verhältnismässig gutes Angebot unter der
Bedingung, dass er mindestens 50% der Aktien kaufen könne. Ich bekam den Auf-
trag, alle Teilhaber aufzusuchen (etwa ein Dutzend), um ihnen den Sachverhalt
klarzulegen, damit sie an der folgenden Versammlung entscheiden könnten, ob sie
ihre Anteile verkaufen oder behalten wollten. Es entschied sich die Mehrzahl für
den Verkauf, so dass etwa 50% der Aktien an Schmidheiny übergingen, der sei-
nerseits erklärte, dass er das Werk ausbauen und modernisieren werde, was in der
Folge auch geschah. Mein Vater, der auch verkaufte, wurde pensioniert und zog

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nach dem Tode unserer Mutter nach St.Gallen zu meinem Bruder Hermann. Er
litt damals schon in hohem Masse an Gedächtnisschwäche.

Verlegung der Torfstreufabrik

1927 starb meine Schwester Lisa, als ich gerade wegen einer Kropfoperation im
Spital Altstätten lag, und ich konnte nicht an ihrer Beerdigung teilnehmen. - Hier
bin ich nun der Zeit etwas vorausgeeilt. - Vorher geschahen noch allerlei wichtige
Ereignisse. Die Torfstreufabrik war in der jetzigen Ausführung nur ein Proviso-
rium und als solches fehl am Platze. Wenn Südwind herrschte, blies dieser viel
Staub zum Hause von Herrn Büchel zur Sonne, was dort sehr unangenehm war.
Deshalb zog Base Lisette alle Register, dass die Bude woanders hingebaut werde.
Es tauchte die Idee auf, die Torfstreufabrik in die bestehende Ziegelei Hylpert zu
verlegen. Für diese Möglichkeit sprach auch der Umstand, dass die Ziegelei den
gleichen Leuten gehörte, die auch Besitzer der Torfstreufabrik waren. Ebenso
dafür sprach der Umstand, dass dort Platz in Hülle und Fülle vorhanden war, um
Rohmaterial einzulagern. Das Objekt stand zudem noch auf einem Grundstück
von 1 ½ Hektar Ausmass und lag direkt an der Staatsstrasse. Ein weiteres Plus war,
dass ich unmittelbar gegenüber wohnte. Gegen das Projekt sprach allerdings, dass
die Gebäude ziemlich baufällig waren und auch für unseren Zweck zu hoch. Da
aber die Vorteile weit überwogen, wurde die Sache an die Hand genommen. Ich
machte Pläne, wie der vorhandene Platz bestens ausgenützt und die Maschinen in
die bestehenden Räume eingebaut werden könnten.

Geschäftsreise nach Deutschland

Es zeigte sich, dass alles verhältnismässig gut gehen würde. Es wurde auch be-
schlossen, eine zweite Ballenpresse sowie eine Siebanlage anzuschaffen. Dadurch
waren wir dann in der Lage, feinen Torfmull und gröbere Torfstreu gesondert lie-
fern zu können. Zur Beschaffung dieser Maschinen ersuchten wir eine Maschi-
nenfabrik in Oldenburg um Offerten, die wir bald darauf erhielten. Gleichzeitig
machte uns die Firma den Vorschlag, in Begleitung eines ihrer Ingenieure drei an-
dere Torfwerke, in denen ihre Maschinen standen, zu besuchen. Dieser Vorschlag
wurde sofort angenommen, es bot sich hier eine Gelegenheit, einiges zu sehen, was
uns zu Nutzen sein könnte. Es wurde abgemacht, dass einer ihrer Herren bis Halle
entgegenkommen werde. Ich suchte meinen Pass hervor und fuhr über Romans-
horn, wo ich von meinem Reisegeld 50 Franken in Mark umwechselte. Da in
Deutschland Inflation herrschte, bekam ich für diesen Betrag Banknoten in rau-
hen Mengen, so dass ich einen Teil im Koffer versorgen musste. In Friedrichsha-
fen kaufte ich eine Fahrkarte über Nürnberg, Ehrfurt nach Halle. In Halle wurde
ich prompt empfangen. Wie wir uns gefunden haben, weiss ich nicht mehr, offen-
bar hatte der Herr in mir den Schweizer gleich erkannt. Von hier ging es weiter in
Richtung Hannover. An dieser Strecke besuchten wir zwei Torfwerke, und ich be-
kam dabei vieles zu sehen, wovon allerdings manches für unsere Verhältnisse nicht
verwendbar war. Das dritte Werk musste ich dann allein besuchen, da mein Be-
gleiter noch einen anderen Auftrag hatte. Er gab mir ein Empfehlungsschreiben
mit und beschrieb mir, wie ich dort hin käme. Mit einem Personenzug ging es wei-
ter bis Neuendorf-Pappendorf, wo ich ausstieg. Es war dies nur eine Haltestelle,
und der Beamte dort war Stationsvorstand und Weichenwärter in einer Person.
Diesen fragte ich dann nach dem Weg zum Torfwerk. Ich brauche einfach nur dem
Industriegeleise nachzugehen und werde in etwa einer Stunde dort sein, war sein
Bescheid. Nun kam mein Gang durch die Heide, und richtig tauchte nach fast ein-
stündigem Marsch das Dorf auf. Es entpuppte sich dann als eine Anzahl besserer
Torfhütten. Da ich Hunger verspürte, fragte ich nach einer Wirtschaft. Ein Kind
führte mich dorthin. Anstatt Wirtshaus sagt man hier «Krug»; es war eine Kate wie

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alle anderen auch. Ich fragte den Wirt nach Essen und Trinken. Fürs erste hatte er
Weissbier und Kornbranntwein und zu essen gäbe es Suppe. Auf meine Frage, was
es nebst der Suppe noch gebe, erwiderte er einfach: «Weiter nischt». So bestgellt ich
Bier und Suppe. Das Getränk war etwas dünn, und als die Suppe aufgetragen
wurde, begriff ich, was «weiter nischt» bedeutete. Es war ein sogenanntes Ein-
topfgerichticht, Bohnensuppe mit viel Fleisch darin und dann noch Brot nach Bedarf.
Es schmeckte mir ausgezeichnet. Der Wirt hatte natürlich sofort gemerkt, dass ich
fremd war und stellte entsprechende Fragen an mich. Da kamen mir meine im
St. Galler Gesellenhaus erworbenen «Sprachkenntnisse» sehr zu statten, sonst
hätte ich diesen Dialekt nie verstanden. Ich erzählte ihm, dass ich aus der Schweiz
käme und schilderte meine Heimat mit ihren Seen und Bergen recht anschaulich.
Da er in seinem Leben nie über seine Heide hinaus gekommen war, konnte er sich
den Unterschied zwischen seiner und meiner Heimat nicht vorstellen und kam aus
dem Staunen nicht mehr heraus. Beim Abschied zeigte er mir noch den Weg zum
Torfwerk. Dort wurde ich auf Grund meines Empfehlungsschreibens freundlich
empfangen. Ein Vorarbeiter zeigte mir in der Fabrik und im Feld alles Nötige. Nach
der Besichtigung brachte man mich mit der Loki, welche die beladenen Bahnwa-
gen zu der Station zu bringen hatte, wieder zurück, wo bald ein Zug eintraf, der
mich nach Oldenburg brachte. In der dortigen Maschinenfabrik bestellte ich dann
unsere Maschinen definitiv. Die Preise setzten sie in Schweizer Franken fest, zahl-
bar auf eine Bank in Zürich.<7p>

Die Rückfahrt machte ich über Köln, dem Rhein entlang nach Basel, wo ich meine
nicht verbrauchten Mark wieder in Franken umtauschte. Dank einem momenta-
nen Kursanstieg erhielt ich dafür noch 20 Franken, so dass mich die ganze Reise
in Deutschland 30 Franken gekostet hatte. Sie hatte gerade eine Woche gedauert.
So geschehen im Jahre 1921!

Umbau

Nun begann der Umbau der Ziegelhütte im Hylpert in eine Torfstreufabrik. Mit-
tels einer Rollbahn, quer über die Landstasse (man stelle sich das in der jetzigen
Zeit vor) führten wir in paar Tagen allen anfallenden Bauschutt in die nahe gele-
gene Lehmgrube. Um einen möglichst geräumigen Lagerplatz für Rohmaterial zu
erhalten, liess ich zwei grosse Pfeiler bauen, die das ganze Gebälk, das ich noch
verstärken liess, zu tragen hatten. Dadurch ergab sich ein Raum, in dem ein ganzer
Zug, d.h. zwei Pferde mit drei zusammenhängenden Torfwagen, ohne weiteres hin-
einfahren konnten. Dieser grosse Raum ermöglichte es dann, dass längere Gut-
wetterperioden ausgenützt werden konnten, wir grosse Vorräte an Rohmaterial zu
Verfügung hatten und anderseits die Grundstücke im Riet geräumt werden konn-
ten und somit wieder Platz entstand auf den Winter. Es sind dies in unserem Ge-
werbe zwei wichtige Faktoren. Im östlichen Teil des Hauptgebäudes wurde ein
Schnürboden erstellt, der die richtige Höhe hatte für die zwei Ballenpressen und
zugleich auch die optimale Höhe der Rampe für die Beladung der Fahrzeuge, Last-
auto und Brückenwagen.

Der Elektromotor von 15 PS wurde in der anliegenden Reparaturwerkstätte auf-
gestellt und durch eine verlängerte Welle durch die Mauer hindurch wurde die
Kraft auf die Transmission übertragen, von welcher aus dann sie einzelnen Ma-
schinen durch Treibriemen in Gang gebracht wurden. Auf diese Weise gelang es,
den Motor einigermassen staubfrei zu halten. Nun montierte ich vorläufig die
neuen Maschinen und für die sich noch im alten Bau befindlichen wurden die
Sockel vorbereitet. Im Winter 1921 machten wir dann ein möglichst grosse Lager
an fertigen Ballen, um einige Zeit ab Lager liefern zu können. Es war ja auch im

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Winter erfahrungsgemäss am wenigsten Nachfrage für Torfmull. Dann wurden die
Maschinen demontiert und am neuen Ort wieder aufgestellt. Dies war natürlich
schneller gesagt als getan! Herr Büchel als Präsident unserer AG kam öfter, um
sich vom Stand der Dinge zu überzeugen, und mehr als einmal fragte er mich in
allem Ernst ob ieb glaube, dass die Sache je wieder zum Laufen kommen werde!
Es war eben eine Zeitlang am alten Ort nichts mehr und am neuen noch nicht viel
zu sehen, aber gegen den Frühling hin sah es dann schon besser aus!

Als Wirt und Pferdehändler hatte er halt wenig Verständnis für technische Fragen.
Ehrlich gestanden war ich auch froh, als am 21. Mai 1922 die erste Balle aus der
Presse rollte. Ich hatte die ganze Anlage geplant, die Bauführung übernommen,
alles persönlich installiert und alles hat geklappt. Durch die rationelle Einrichtung
konnte der Betrieb mit vier Mann besorgt werden, was gegenüber vorher eine
Einsparung von zwei Mann bedeutete. Die Rechnungsablage pro 1921 wurde ex-
tra auf den Juni 1922 hinausgeschoben, um den Teilhabern über den Umbau be-
richten zu können, und die Versammlung beschloss, mir Dank und Anerkennung
auszuprechen und dies mit einem Geschenk von 500 Franken auch noch zu ho-
norieren, was mich sehr freute. Das Vertrauen der Verwaltung war vollständig, und
man' überliess mir die Führung des Betriebes in Fabrik und und im Riet. Dadurch
wurde auch das Büro entlastet, das noch die Buchhaltung, das Offert- und Faktu-
rierwesen, sowie den Zahltag zu besorgen hatte.

Gleichzeitig mit der Verbesserung unseres Produktes durch die Erneuerung der
maschinellen Anlagen, setzte auch eine scharfe Konkurrenz vom Ausland und
auch vom Inland her ein.

Propaganda

Während des Krieges herrschte grosse Nachfrage nach Torfmull; es bestand prak-
tisch keine Konkurrenz und es konnten gute Preise erzielt werden. Dies alles än-
derte sich jetzt gewaltig, und es mussten grosse Anstrengungen gemacht werden.
Es hiess: «Wehr di!» An der Gewerbeausstellung in Berneck 1922 sowie an derje-
nigen in Buchs 1924 stellten wir unsere Produkte aus, und selbstverständlich 1928
an der Landwirtschaftlichen Ausstellung in St. Gallen machten wir Reklame. In
Bauern- und Gärtnerfachschriften liefen planmässig Inserate. Der Erfolg blieb
nicht aus, d.h. die Nachfrage setzte ein.

Gelegentlich ging ich auch auf Kundenbesuch. In Zürich fand damals alljährlich
eine Baumesse statt, an der wir unser Produkt als Isoliermittel anpriesen. Es kam
dann aber just in jener Zeit die Glaswolle auf den Markt, und bald darauf die Flam-
men-Steinwolle, die als Nebenprodukt der Karbidherstellung entstand und sehr
billig war, so dass in dieser Sparte nicht mehr viel zu machen war.

Als Mitglied der Schweizerischen Produktenbörse offerierte ich im «Du Pont» in
Zürich einmal: «Zu verkaufen 100 Waggon Torfmull», was allerhand Aufsehen gab
und auch Aufträge. Gleichzeitig meldete sich ein Vertreter für Zürich. Dadurch
wurde der Handel für den Platz Zürich und Umgebung für uns viel einfacher. Der
Vertreter unterhielt ein Lager und lieferte auch en détail für Gärten. In Maienfeld
gelang es, Herrn Oberst von Gugelberg für Torfmull zur Verwendung im Rebbau
zu interessieren. Nach eingehenden Versuchen in seinen eigenen Weingärten
machte er in der Weinbauzeitung entsprechende Einsendungen, und bald entstand
rege Nachfrage für unser Produkt auf einem völlig neuen Gebiet. Genau dasselbe
wiederholte sich im Walliser Weinbau, wo ein Herr Wuilloud Propaganda machte
und uns in Sion einen Vertreter empfahl, der viele Jahre unser bester Kunde war.
Wegen der fortschreitenden Motorisierung wurde der natürliche Dünger sehr rar,
und die Weinbauern düngten ihre Reben mit Lonzadünger, was aber den ohnehin
schon steinigen Boden noch ganz auslaugte, so dass die Erträge zurückgingen. Es
musste wieder organische Substanz eingebracht werden, was eben mit Torfmull

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gemacht wurde. Um die Sache recht populär zu machen, stellte ich einige Jahre am
«Comptoir» in Lausanne aus.

Comptoir suisse

Diese zehn Tage waren jeweils eine Art Ferien für mich. Auf einer Seite meines
Standes stellte eine Waagenfabrik aus, und auf der andern die «Galactina Kälber-
trank» aus Vevey. Beide Vertreter waren flotte Leute, und wenn sie hörten, dass
ich wieder Sprachschwierigkeiten hatte, machte sofort einer von ihnen den Dol-
metscher. Wir hatten ein sehr schönes Verhältnis unter uns, und in der nahen «Cave
Valaisanne» kannte man uns bald beim Namen. Für die Waadt hatten wir einen
Vertreter in der Person eines echten Weinbauern namens Pachoud. - Doch nun zu
meinem Privatleben.

Familie

Meine Familie vergrösserte sich, in dem sich im Laufe der Jahre sechs Kinder ein-
stellten. Zu diesen gesellten sich während dem zweiten Weltkrieg noch zwei Aus-
lands-Ferienkinder, Roger Martin aus Lyon und Leo Hellinger aus Eindhoven.
Vorsorglicherweise hatten wir beim Kauf der Aussteuer einen Auszugstisch ge-
kauft. Er blieb manche Jahre ausgezogen, waren wir doch oft unser zehn an dem-
selben. Meine Frau hatte in all diesen Jahren eine Riesenarbeit zu bewältigen.
Noch bevor sich Anzeichen einer Krankheit bei ihr zeigten, bot sich Gelegenheit,
die versprochene Hochzeitsreise nachzuholen.

1948 wurde meine Lebensversicherung fällig, und aus einem Teil dieses Geldes
kaufte ich ein Auto. Wir machten damit eine Schweizerreise, die alle acht Tage von
schönstem Wetter begünstigt war und für uns ein schönes Erlebnis wurde. Somit
war mein damaliges Versprechen endlich eingelöst. Etwa ein Jahr später zeigten
sich bei Friederike die ersten Anzeichen einer beginnenden Krankheit.

Garagenprojekt

In jener Zeit sah man es kommen, dass der Kanton Graubünden seine Strassen
dem Autoverkehr öffnen werde. Dieser Umstand bewog mich, dort einen Platz zu
suchen, um eine Garage zu errichten. In Landquart, an der Strassenkreuzung Sar-
gans-Chur und Landquart-Davos, wäre eine günstige Gelegenheit gewesen. Herr
Weibel von der Ziegelei bot mir Hilfe an beim Erwerb des Bodens und sicherte
mir auch Arbeit zu. Zu Hause gab ich dann meine Absicht bekannt. Ich wurde er-
sucht, von diesem Vorhaben abzusehen, und man gab mir sofort 100 Franken mehr,
dadurch hatte ich 500 Franken Gehalt nebst freier Wohnung (dem ganzen Haus)
sowie freiem Brennmaterial. Wieder einmal stand ich vor einer schweren Ent-
scheidung. Hier ein Spatz in der Hand und in Landquart ein Vogel auf dem Dach.
Nach reiflicher Überlegung beschloss ich zu bleiben und Herrn Weibel in diesem
Sinne Bescheid zu geben. Er hat dann jemand anderem die Garage erstellt.

Durch verschiedene Verbesserungen wurde der Betrieb noch ausgebaut. Mit dem
Einbau eines Elevators konnte noch mehr Lagerraum ausgenützt werden, was
sehr wichtig war. Der Einbau einer Mullmühle ermöglichte es, im Bedarfsfalle aus-
schliesslich Mull herzustellen. Eine von mir erfundene Vorrichtung ermöglichte
dann einem Mann allein, eine Balle vom Boden weg auf den Sackkarren zu neh-
men, was eine grosse Vereinfachung war. Nicht zu beheben war, dass der Preis un-
seres Produktes durch die Konkurrenz dauernd sehr gedrückt wurde.

Unsere Abnehmer, Bauern und Gärtner, waren in jenen Zeiten auch nicht auf Ro-
sen gebettet, so dass zu allem hin auch das Geld schlecht einging. Überall herrschte
Arbeitslosigkeit. Niemand wollte etwas unternehmen, es floss kaum Geld, das
Stempeln wurde eingeführt, was wohl dem Einzelnen einige Franken einbrachte,
aber keine Befriedigung schaffte. Oberriet hatte damals einen weitsichtigen

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Gemeindeammann namens Dr. Karl Dux. Dieser setzte es durch, dass z.B. Bach-
korrekturen vorgenommen wurden. Mit Hilfe von Bund und Kanton wurde eine
Waldstrasse bis an die appenzellische Grenze gebaut, ein Werk, das viele Arbeiter
beschäftigte und sich dann während dem Krieg gut bewährte. Es konnte Holz aus
den Wäldern bezogen werden, das ohne eine Strasse noch heute ungenutzt stünde.
Aus dem Erlös dieses Holzes konnten dann die entstandenen Schulden leicht ge-
deckt werden.

Technische Versuche

Immer war ich auch darauf bedacht, neue Verwendungsmöglichkeiten für Torf zu
finden, um den Umsatz zu halten oder gar zu heben. So kam z.B. einmal Herr Schär
aus Arbon, Inhaber eines Blechpresswerkes. Er hatte die Idee, für tropische Ge-
genden Häuser in Blech herzustellen, d.h. Bauelemente, wie doppelwandige Bö-
den, Wände und Decken, die am Ort dann zusammengebaut werden sollten. Die
Hohlräume dieser Elemente gedachte er mit Torfmull zu füllen, um eine gute Iso-
lation zu erreichen. Wir vereinbarten einen annehmbaren Preis, und es wurden ei-
nige Fuhren abgeholt. Mit der Begründung, es seien unvorhergesehene Schwie-
rigkeiten aufgetreten, wurde aber die Sache wieder abgeblasen. Später tauchte ein
Herr Dickmann, Ingenieur aus Schaffhausen auf; er interessierte sich auch für
Torfmull. Schon damals, in den Jahren 1936 - 37, war die Rede von Abwasser-
klärung. Sein Plan war, vorgeklärtes Abwasser durch eine Schicht Torfmull hin-
durch fliessen zu lassen. Dadurch sollten sich dann alle noch vorhandenen
Schmutzstoffe in diesem Torfmull festsetzen, und das gereinigte Wasser sollte un-
ten abfliessen. Die auf diese Weise mit Schmutzstoffen durchsetzten Mengen Torf
würden dann in ein Lager weggeschafft, wo sie sich durch einsetzende Gärung er-
hitzen sollten. Nach dem Trocknen könnten sie dann als hochwertiger Dünger ver-
wendet werden. Mir leuchtete dies ein, und ich versprach, die für Grossversuche
nötigen Mengen Torf gratis abzugeben. In St. Gallen fand Herr Dickmann eben-
falls Gehör, und es wurde ihm die Erlaubnis erteilt, in der Kläranlage in Witten-
bach seine Idee auszuprobieren. Ein volles Jahr wurde gearbeitet und gepröbelt.
Theoretisch war es doch so einfach und vielversprechend, aber in der praktischen
Anwendung kam es halt anders. Zuerst versickerte das Wasser ganz nach Wunsch
durch den Torf und unten kam es rein heraus, so sauber, wie es in der Kläranlage
sonst nie erreicht worden war. Aber dann kam es anders. Nach einiger Zeit ver-
schlammte die Oberfläche, und das Wasser floss nicht mehr durch, sondern darü-
ber weg. Es wurde alles mögliche ausprobiert, um die richtige Lösung zu finden.
Um wirtschaftlich zu sein, durfte aber das Verfahren ausser der Torfbeschaffung
keine Kosten bereiten. Abschliessend kam die Erkenntnis: Undurchführbar!

Mich dauerte Herr Dickmann, hatte er doch seine Mittel für nichts aufgewendet.
Für mich privat gab es dann doch noch einen Gewinn. In einem privaten Gespräch
mit Herrn Dickmann riet mir dieser, angesichts des kommenden Krieges einen
möglichst grossen Komposthaufen anzulegen. Er erklärte mir, wie dies zweck-
mässig gemacht werde. Ich befolgte seinen Rat, und als dann der Krieg die Selbst-
versorgung erzwang, stand mir genügend wertvoller Dünger für meinen Acker zur Verfügung.

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Krieg 1939-1945

Brückenwache

Es ist das Wort Krieg gefallen, ein inhaltsschweres Wort für Millionen von Men-
schen. Seit 1920 war ich militärisch eingeteilt, zu den damals noch zivilen Zerstö-
rertruppen, als Objektchef bei der Eisenbahnbrücke zwischen Oberriet und Rüthi.
Alljährlich wurden wir zu einer Ladeübung an einem der vielen Objekte von Senn-
wald bis Goldach aufgeboten. An Hand von Plänen war da das Laden sowie das
Verlegen der Zündleitungen mit Zündschnüren und elektrischen Zündleitungen
vorzunehmen. Für den Kriegsfall lautete unsere Instruktion: Unverzüglich zum
Objekt einrücken, versehen mit Verpflegung für drei Tage. Als 1939 die erste Mo-
bilmachung bekanntgegeben wurde, zog ich am frühen Morgen zu meiner Brücke
und war, mit Ausnahme einer Schar Wildenten, als erster dort. Später kam ein Of-
fizier vorbei und fragte ganz misstrauisch, was ich hier zu suchen habe. Als ich mich
mit dem Dienstbüchlein auswies, war er beruhigt. Nach und nach kamen dann auch
meine zehn Mineure, und gegen Abend brachte ein Lastwagen die Munition
und die Zündmittel. Durch einen Läufer kam der Befehl, ich hätte auf den Komman-
doposten in der Gärtnerei Rot in Altstätten zu kommen. Dort gab man den Be-
fehl, das Objekt sofort zu laden. Zu diesem Zweck bekam ich den Plan, ein Ohm-
meter und einen elektrischen Zündapparat. Weiter erhielt ich noch den Auftrag,
mich am Ort nach einer Unterkunft umzusehen. Wegen der einbrechenden Dun-
kelheit musste ich das Laden auf den Morgen verschieben, dagegen fanden wir
noch ein provisorisches Kantonnement. Nun war noch der Wachdienst zu organi-
sieren. Zwei meiner Mineure waren gediente Soldaten, die Erfahrung in diesen
Belangen hatten, so dass auch diese Angelegenheit geregelt werden konnte. Un-
sere Wache hatte nur symbolischen Wert, hatten wir doch weder Uniform noch
Waffen. Faktisch waren wir aber dem Grenzschutz unterstellt, der seinerseits auch
einen Posten an jener Brücke stellte. Als Unterkunft diente uns der Holzschopf ei-
nes Bauernhauses am südlichen Abhang des Blattenberges, etwa 500 Meter von
der Brücke entfernt. Später, als es kälter wurde, stellte uns der Bauer ein grosses
Zimmer im Hause zur Verfügung, das mit dem Gang zusammen genügend Platz
bot, so dass mit dem Bau einer Baracke zugewartet werden konnte. Da dieses Haus
für Autos keine Zufahrt hatte, waren wir sozusagen sturmfrei einquartiert, was wir
zu schätzen wussten.

Militärische Ausbildung

Wir waren noch immer Zivilisten und hatten Selbstverpflegung und einen ent-
sprechenden Sold. Dies schien den Offizieren des Grenzschutzes nicht zu passen
und wir bekamen bald ein Gewehr, Kaput und einen Stahlhelm. Nur der Besitz
dieser Effekten machte aber aus uns noch keine Soldaten. Zwei Ausbildungskurse
von je vier Wochen im Schulhaus Oberriet und in der Kaserne Altstätten waren
dann unsere Rekrutenschule. Für mich als bald fünfzigjährigen Rekruten waren
die damit verbundenen Strapazen ein leichtes, schlimmer war es mit dem Drill und
der Subordination. Die meisten Offiziere waren mir persönlich bekannt, zum Teil
nur zu gut, aber auch dies ging vorüber, dafür waren wir nun richtige Soldaten und
nicht nur Angehörige des Hilfsdienstes. Ich war nie gerne Soldat, aber wenn schon,
dann schon. Ich machte meiner Mannschaft klar, dass das Wesentliche eben unbe-
dingt sein und weniger Wichtiges eben weniger wichtig genommen werden müsse.
Wir hatten eine vorbildliche Kameradschaft, und bei meiner Brücke hat es immer
geklappt, was nicht überall der Fall war! Über 400 Tage diente ich so dem Vater-
land und habe dabei auch viel gelernt und eine grosse Zahl lieber Kameraden ge-
funden. Trotz dem Militärdienst konnte ich mich auch um das Geschäft kümmern

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und die Familie. Die Mehrzahl meiner Arbeiter waren ältere Männer und sonst-
wie vom Dienst befreit, so dass alles seinen gewohnten Lauf nahm. Meine Frau be-
kam allerdings mehr zu tun, aber es waren ja schon ältere Kinder da, um zu hel-
fen.

Melioration und Gamperfin

Während dem Kriege wurde die Melioration der Rheinebene beschlossen. Für das
Gebiet vom Blattenberg bis zum Monstein und vom Fusse des Berges bis an den
Rhein, wurde eine Güterzusammenlegung durchgeführt, alles Land drainiert, be-
stehende Gräben ausgefüllt und ein entsprechendes Feldstrassennetz erstellt. Für
uns, mit einem Landbesitz von ca. 50 ha an etwa 120 Stücken, war natürlich diese
Güterzusammenlegung äusserst wichtig. Hauptsächlich im Riet galt es bei der Bo-
denabtretung solchen wegzugeben, der schon ausgebeutet war, und bei der Zu-
teilung solchen zu erhalten, der noch Torf enthielt. Um in dieser Sache an ein Ziel
zu kommen, brauchte es viele Unterredungen mit den zuständigen Geometern
Eggenberger und Göldi. Gegenseitiges Verständnis und Entgegenkommen führ-
ten dann doch zu einer für beide Teile annehmbaren Lösung.

Bei der Meliorationskommission waren die zwei Torfstreuwerke als am Boden
Raubbau treibende Firmen sowieso nie lieb Kind, und einige Zeit lang sah es fast
so aus, als ob unser Gewerbe einfach abgewürgt werden sollte. Solche Aussichten
veranlassten mich 1942 einmal, das Torfriet Gamperfin oberhalb von Grabs zu be-
sichtigen. Ausdehnung und Qualität dieses Moores verleiteten mich dazu, ein
Projekt über dessen Ausbeutung zu erstellen. Der Verwaltungsrat der Torfstreu-
fabrik begrüsste diesen Plan, und wir traten in Verhandlung mit dem zuständigen
Ortsverwaltungsrat der Gemeinde Grabs, Präsident Christian Eggenberger. Die
Verwaltung war grundsätzlich bereit, da sie das Riet als Moorland taxierte, das
nie Nutzen abwarf. Noch im Oktober fuhr ich mit einigen Torfarbeitern
hinauf, um einen Abzugsgraben zu erstellen, damit das Wasser über den Winter
auslaufen konnte. Der Aushub aus diesem Graben trocknete bei dem schönen
Wetter gut, und wir konnten in der zweiten Woche schon trockenen Torf heraus-
nehmen.

Im Frühjahr 1943 besichtigte der Verwaltungsrat das Riet, um dann definitiv Be-
schluss zu fassen und mit Grabs einen Vertrag abzuschliessen. Allem voran mus-
ste die Zufahrtsstrasse verbessert werden. Dann kam die Beschaffung von elek-
trischer Kraft. Die Verhandlung mit dem E.W. Grabs (Herrn Niklaus Vetsch) ver-
liefen positiv, d.h. wir erhielten Zusage für den Anschluss, mussten aber die Be-
schaffung eines Transformators, die Lieferung der 15 Stangen und das Graben der
15 Löcher für diese, sowie die Kosten der Leitung übernehmen, die dann bald er-
stellt wurde. Bei Kaspar Kühnis wurde eine Baracke ausgeklügelt und erstellt, und
schon im Juli konnten wir im eigenen Haus schlafen und essen.

1944 erstellte uns Peter Bernegger das Werkgebäude und die Zufahrtsrampe vom
Riet, das etwas höher lag als der «Bom».Ueber diese Rampe legten wir unser Roll-
bahngeleise, das vom entferntesten Ende des Riets bis in den Schopf hineinführte
und zum Materialtransport diente. Die ganze Installation dieser Anlage war eine
Riesenarbeit für mich, und dazu kam noch die unendliche Mühen fordernde Be-
schaffung der Lebensmittel für gut ein Dutzend junger «Fresser».

Vielleicht am treffendsten beurteilte Klein-Roger, den wir oft mit nach Gamper-
fin nahmen, meine Arbeit. Die Torfarbeiter schickten ihn gelegentlich ins Kurhaus
«Voralp», um Zigaretten und andere Kleinigkeiten zu holen. Die Kurgäste dort
hatten dann mit dem Franzosen ihren «Plausch», und als einmal jemand nach mir
fragte, habe er geantwortet: «O, «Vat» toujours travailler, jamais s'amuser». Der
hatte es erfasst! Solange der Krieg dauerte, ging die Sache soweit gut. Der Absatz
war reissend und die Preise waren entsprechend. Nach dem Krieg änderte sich dann

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die Situation und wir beschlossen, im Einvernehmen mit der Pächterin, d* ein Teil des In An-
lage zu liquidieren

Liquidation Garmperfin

Der Verkauf der Gebäude ging gut, ebenso konnte dort ein Teil des Inventars ver-
kauft werden. Den Rest nahmen wir mit nach Oberriet. Ich glaubte, nun werde für
mich eine ruhigere Zeit anrechen, sah mich dann aber sehr getäuscht. Vertrau-
ensmissbrauch des Geschäftsleiters und daheriges Missreauen von Seite der Ak-
tionärengruppe führten zu Umbesetzungen in der Verwaltung, wie ich vorher nie
für möglich gehalten hätte.

Nach dem ersten Weltkrieg war die Nachfrage für Torfmull erheblich angestiegen,
nach dem zweiten traf das Gefgetnsttei ein. Wohl war auch jetzt Nachfrage, aber bei
gleichen Preisen wurde dann fast staubfreiem Hochmoortorf aus Deutschland der
Vorzug gegeben. dieser Umstand wirkte nich natürlich auf unsers Geschäftsergeb-
nisse negativ aus. Ein Zollschutz wurde nicht gewährt. Zu all diesen ungünstigen
Voraussetzungen kamen noch andere dazu. Die Vorschriften der Melioration
Machten sich für uns ungünstig bemerkbar, und das bisher nie gekannte Problem
des Arbeiternachwuchses tauchte auf. Die jungen Leute fanden bessere auch
besser bezahlte Arbeit.

Tod der Ehefrau

Zu allem hin starb noch meine Frau. Wahrlich, sehr unerfreuliche Zeiten!

2. Ehe

Es wurde noch einige Jahre weiter gemacht, mit wechselndem Erfolg, aber zu er-
spriesslichen Geschäften kam es nicht mehr. Der Umstand, dass ich wegen mei-
nem frauenlosen Haushalt gezwungen war im Hotel zu essen, bewährte sich auf
die Dauer nicht, und schliesslich bot sich mir die Gelegenheit wieder zu heiraten.
So zügelte ich also nach St. Gallen.

Liquidation Oberriet

Fast gleichzeitig beschloss die Aktonärsversammlung, unsere Firma zu liqudieren
und die Verwaltung beauftragte mich, diese Aufgabe durchzuführen So kam es,
dass ich noch drei Jahre täglich nach Oberriet fuhr. Vorerst mussten noch die gros-
sen Vorräte an Rohmaterial verarbeitet und verkauft werden, und für die älteren
Arbeiter passende Stellen zu suchen, bereitete auch allerhand Mühe. Glückli-
cherweise bestand damals gerade grosse Nachfrage nach Grund und Boden, so
dass ein Grossteil der Immobilien gut verkauft werden konnte. Bei diesem Grund-
stückhandel mussten wir verspüren, dass das Rheintal an der Grenze des Landes
liegt, dass unser Torfboden als Bauland ungeeignet ist und nur für landwirtschaft-
liche Nutzung in Frage kommt. Einen grossen Teil davon verkauften wir unserer
Konkurrenz, die ihn wegen den grossen Torfvorräte gut bezahlte. Zuletzt kamen
noch die Maschinen und Werkzeuge zum Verkauf, ein Teil davon taugte nur noch
als Alteisen. Dieses Wort ruft mir gerade noch etwas in Erinnerung. In diesem Jahr
erfolgte auch die Entlassung aus der Wehrpflicht. Diese fand in Altstätten statt und
schloss mit einer kleinen, aber eindrücklichen Feier. Man nahm Abschied von vie-
len Kameraden und hatte zumeist das Gefühl, ausrangiert zu sein, eben Alteisen.
1960 war, mit Ausnahme einiger Grundstücke, alles verkauft, und ich legte mein
Mandat als V.R. der Torfstreu AG ab. Meine Unterschriftsberechtigung wurde
gelöscht, und somit endete ein Abschnitt meines Lebens.

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Flory

Einmal allerdings hätte ich einen Mann bald vorzeitig verloren: «Flory», der Sohn
unserer Waschfrau, arbeitete schon einige Jahre bei mir. Obwohl Deutscher, war
er ein Montlinger wie alle anderen auch; er war hier geboren, ging hier in die
Schule, war im Schützenverein, kurz, er war ein Hiesiger und dazu noch gross und
stark und gab nie Anlass zu Tadel. Als dann vor und während dem Krieg Hitler
sein tausendjähriges Reich versprach, kam unserem Flory in den Sinn, dass er ja
auch Angehöriger dieser reinarischen Edelrasse sei, und er wurde vor Stolz noch
etwas grösser als er sonst schon war! Als dann die deutschen Armeen in Frank-
reich siegreich einzogen, fing er an, mit seinen Arbeitskollegen zu politisieren. Es
wurde auch ruchbar, dass sich die Deutschen unserer Gegend bei geheimen Zu-
sammenkünften trafen. Jetzt fühlte Flory sich berufen, seine Kollegen aufzuwie-
geln und Vorbereitungen zu treffen für einen eventuellen Einmarsch. Die Arbei-
ter bekamen bald genug von seinen Sprüchen und beklagten sich bei mir über
Flory. Ich nahm ihn mir vor und erklärte ihm, wenn sein Herz so stark für sein Va-
terland schlage, stehe ihm nichts im Wege, heim ins Reich zu ziehen und seinen Teil
zum Gelingen von Adolfs Plänen beizutragen. Falls er es aber vorziehe, hier in Si-
cherheit zu bleiben, so habe er sich still zu verhalten, sonst habe fortan keiner mehr
Achtung vor ihm. Ich prophezeite ihm dann vor allen Kollegen, dass Hitler nie in
der Lage sein werde, seine verrückten Pläne zu verwirklichen, trotz der derzeiti-
gen Scheinerfolge. Er glaubte dann noch, mich darauf aufmerksam machen zu
müssen, dass solche Reden mir leicht zum Verhängnis werden könnten. Als es
dann später doch noch so kam, wie ich es vorausgesagt hatte, stellte er einfach wie-
der um und war wieder ein Montlinger wie eh und jeh. Die Leute sind ja so ver-
gesslich! Als ich mich vor einiger Zeit erkundigte, sagte man mir, dass er jetzt ein
sehr frommer Mann geworden sei und jeden Morgen zur Messe gehe. In der Ge-
meinde sei er jetzt Milchkontrolleur.

Da ich jetzt als «Nichtsmehrtuer» Zeit genug habe, fahre ich öfters ins Rheintal,
um mich mit Verwandten und Bekannten zu unterhalten, und jedesmal herrscht
Freude, wenn ich dort auftauche. So bleibt man mit der Heimat verbunden und
spricht über Vergangenes und Aktuelles.

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St. Gallen

In der Folge half ich meiner Frau in ihrem Geschäft. Ein Spezereihändler wurde
ich allerdings nicht, aber es gab genug zu tun. Anfangs ging das Leben mit
meiner zweiten Frau ganz gut, was sich dann aber später änderte. Immer mehr
Meinungsverschiedenheiten traten auf, und mit der Zeit wurde die Sache
unerträglich! Nach siebenjähriger Ehe reichte ich dann die Trennungsklage ein.
Es resultierte daraus im Oktober 1963 die Scheidung, in beidseitigem Ein[-]
verständnis. Da ich mittlerweile 71 Jahre alt war, beschloss ich nun zu privati-
sieren. Ich mietete bei einer Familie Koller in der Vadianstrasse ein Zimmer
und glaubte, in der Stadt Unterhaltung und Ablenkung zur Genüge zu finden.
Schon nach einigen Monaten verleidete mir dieses ziel- und zwecklose
Herumbummeln ganz gewaltig. Die Auseinandersetzung mit dem Problem des
Alterns gab mir zu denken und ich beschloss, wieder den Kurs zu ändern.

Halbtagsbeschäftigung

In einem Inserat im Tagblatt suchte auf einmal ein älterer Mann eine Halbtags-
beschäftigung: Er sei noch rüstig, könne Auto fahren und sei Mechaniker von Be-
ruf. Schon am Tag darauf kam die erste Anfrage: Eine Schürzenfabrik glaubte, die
passende Arbeit für mich zu haben und lud mich zu einer Besprechung ein. So
stellte ich mich wieder einmal vor. Die Leute machten mir einen guten Eindruck.
Meine Aufgabe war, Heimarbeit den Arbeiterinnen zu bringen und bei ihnen wie-
der zu holen, wozu mir ein Auto zur Verfügung stehe. Ich nahm diese Beschäfti-
gung an, und nachdem die Zeit meines Vorgängers abgelaufen war, fing ich dort
zu arbeiten an. Am Anfang kam eine Person vom Büro mit auf die Tour, bis mir
alle Adressen der Heimarbeiterinnen bekannt waren. Die meisten waren in der
Stadt. Zweimal wöchentlich fuhr ich zu solchen, die im oberen Thurgau und im
Appenzellerland wohnten, selbst bis Mohren und Buchs brachte ich Arbeit. Die
einen waren Büglerinnen, andere Näherinnen und Zuschneiderinnen. Eine nähte
immer Knöpfe an, die wegen ihrer Form nicht mit der Maschine angenäht werden
konnten. Vielfach gab es auch andere Fahrten zu machen. Zu meinen Aufgaben
gehörte auch das Packen der Versandschachteln und deren Transport zur Post
Langgasse. Die Arbeitszeit richtete sich nach der Menge der Arbeit, die zu tun war,
und die Stunden konnte ich in ein Büchlein eintragen. Bald sah ich Arbeit in Hülle
und Fülle: elektrische Schalter und Türschlösser waren zu reparieren. In der Büg-
lerei funktionierte hie und da die Dampfanlage nicht, Neonröhren waren zu er-
setzen. In der Näherei waren oft die Antriebsriemen zu spannen, in der Zu-
schneiderei die Abfälle zu beseitigen, bei denen oft noch grosse Stücke dabei wa-
ren, die ich dann für mich wegnahm und damit den Kindern der Heimarbeiterin-
nen grosse Freude machte. Der Besitzer der Firma, Herr Degginger, war Jude und
ein sehr flotter Herr. Er beschäftigte im Hause ca. 50 Arbeiterinnen, wovon über
die Hälfte aus Italien, Spanien, der Türkei, Griechenland, der Tschechei und Ju-
goslawien kam. Da gab es dann oft Sprachprobleme. All' diesen Arbeiterinnen be-
sorgte die Firma Wohnungen oder Zimmer, was auch gelegentlich Arbeit für mich
gab. Es wurden Schlüssel verloren, Schlösser funktionierten nicht mehr, Siche-
rungen brannten durch usw. Dies alles wurde mir in allen Sprachen vorgejammert,
damit Signor Zäch alles wieder in Ordnung bringe.

An einem Sonntag ersuchte man mich, unsere Türkinnen in die neu eröffnete Mo-
schee nach Zürich zu fahren. Dann gab es Aufträge, zum Passbüro, zum Steuer-
amt, zur Fremdenkontrolle zu gehen. Alle Konsulate waren mir bekannt. Die eine
musste ins Spital, die andere zum Arzt gebracht werden. Eines Tages kam von der
Bahnmission in Buchs ein Telefon, es kämen mit dem fünf Uhr Zug fünf Spanier-
innen an. Ich bekam den Auftrag, die Damen am Bahnhof abzuholen und sie in die
längst schon vorbereitete Wohnung zu bringen. Als der Zug einfuhr, war ich

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gespannt, was da kommen würde, überall stiegen Leute aus, nur keine Spanierin-
nen. Endlich, als letzte, kamen die fünf Señoritas zum Vorschein, und damit auch
die doppelte Anzahl Koffern und Taschen. Da war kein Zweifel mehr, das waren
sie. Eine war dabei, bei der ich den Eindruck hatte, sie komme eher aus Marokko
als aus Spanien. Ich begrüsste die Damen in reinem Oberrieter Dialekt. Eine von
ihnen zeigte mir ein Schreiben, auf dem ich den Namen Degginger lesen konnte.
Ich nahm die grössten zwei Koffer und steuerte dem Ausgang zu, und die ganze
Corona mit allem Gepäck kam hinterher. Beim Auto angelangt, verstaute ich die
Hälfte des Gepäckes und zwei der Damen. Den anderen dreien deutete ich, dass
sie hier warten sollten. Nun ging es durch die Stadt an die Helvetiastrasse und ich
zeigte ihnen ihr neues Heim. Unverzüglich holte ich dann die zweite «Sendung».
Dann musste ich noch von ihrem Reiseproviant, Brot, Fleisch und Wein mit allen
teilen. Dabei nahm ich mir fest vor, falls ich noch einmal auf die Welt kommen
sollte, unbedingt spanisch zu lernen. Indessen kam aus dem Geschäft eine der Spa-
nierinnen und begrüsste die Neuen und gab ihnen Auskünfte. Ähnlich ging es, als
ich später in St. Margrethen drei Jugoslawinnen abholte.

Während den Wintermonaten machten die Nonnen auf dem Notkersegg auch
Näharbeit für uns. Als ich das erste Mal dort hinauf kam, trat ich mit einer Zaine
in einen Vorraum ein. Da keine Glocke vorhanden war, wartete ich eine Weile.
Plötzlich rumpelte eine Art Trülle, und ein Teller Suppe und ein Stück Brot kamen
zum Vorschein. Sofort rief ich, dass ich nicht essen wolle, sondern Arbeit bringe.
Die Suppe verschwand wieder, und dann öffnete sich die Tür. Ich wollte den
Schwestern die Zaine hineintragen, aber das wurde mir verwehrt. Ich bekam Be-
scheid, wann ich die Ware wieder abholen könne, und verabschiedete mich. In der
Siedlung Hinterberg in Bruggen hatten wir eine Büglerin, Frau Frei. Ihr Mann war
ein Widnauer und Vertreter einer Zigarrenfirma. Als die junge Frau einmal in Er-
wartung war, musste ich eine Zeitlang keine Arbeit bringen. Von Herrn Frei, den
ich später einmal zufällig in der Stadt traf, vernahm ich, dass seine Frau gerade in
der Klinik sei. Ich kaufte einen Blumenstrauss und brachte ihn zu ihr in die Kli-
nik; sie hatte grosse Freude. Als sie später berichtete, dass sie wieder Arbeit wün-
sche, bedankte sie sich für den schönen Strauss, den Herr Zäch ihr gebracht habe.
Da auf dem Büro niemand von diesem Blumenstrauss wusste, kam es halt aus, dass
ich der «Sünder» war. Ich wurde gelobt, dass mir so etwas in den Sinn gekommen
sei und getadelt, dass ich die Unkosten nicht eingezogen hatte. Vielleicht ist es we-
gen diesem Intermezzo, dass ich jedes Jahr zum Betriebsausflug eingeladen werde,
obwohl ich schon drei Jahre von Degginger weg bin.

1966, im 74. Altersjahr, kündigte ich auf Ende des Jahres meine Stelle. Ich wäre ja
so gerne noch geblieben, aber der Wagen, der rollt.—

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Ruhestand

Lichtensteig

Abschied von St. Gallen und Einzug in Lichtensteig! Vor etwa 15 Jahren hatte ich
für meine beiden Töchter Lisi und Berti in Lichtensteig ein Haus gekauft, von ei-
nem Herrn Castelberg, für den Betrag von Fr. 40'000.- mit der Annahme, dass es
vielleicht später auch mir als Unterkunft dienen könnte. Das Haus hat zwei Woh-
nungen und in der einen blieb der bisherige Mieter Blattmann bis auf weiteres. In
die andere zog die Familie Gamper ein und eben auch Lisi. Auf Ende 1966 kün-
digte ich dann dem Mieter. Lisi und ich bezogen diese Wohnung. Hier im Toggen-
burg gefiel es mir eigentlich ganz gut, ich fand aber nie Anschluss an Gleichaltrige
und Gleichgestellte, so dass ich ganz auf mich selbst angewiesen war. Mit meinem
DKW bin ich oft auf Reisen gegangen und besuchte St. Gallen, das Rheintal, die
Voralpen und kam auch etwa nach Frauenfeld oder Aarau.

1967 flog ich mit Jürg und Liselotte, meiner Enkelin und deren Mann, nach Mon-
treal und New York! - Daheim gab es auch Arbeit, die ich machen konnte, sonst
machte ich täglich Spaziergänge mit gelegentlichen Haltestellen. Bei Jürg und Li-
selotte stellte sich eine Tochter ein, und bei dieser Gelegenheit wurde ich auch
noch Urgrossvater! «Sachen gibts!»

Doch bei solchen Ereignissen kommt einem dann vor Augen, wie man älter wird,
was mich aber nicht hinderte, mit Katharina, einer Bekannten vom Grabserberg,
nach Paris zu reisen. Mein Freund Paul hat uns ganz im Zentrum der Stadt für ein
angenehmes Logis gesorgt, uns auch all' die schönen Sehenswürdigkeiten gezeigt,
kennt er doch diese Stadt seit bald 50 Jahren. Wegen dem vielen Laufen stellten
sich bei mir Schmerzen im linken Bein ein. Wieder daheim, suchte ich einen Arzt
auf, der mir erklärte, dass dies die Folge mangelhafter Blutzirkulation sei, und gab
mir Pillen, um das Blut zu verdünnen, damit es wieder besser durch meine Adern
sause. Nach kurzer Zeit trat schon merkliche Besserung ein, und heute kann ich
wieder ohne Schmerzen nach Wattwil und zurück laufen.

1970: Die Liquidation ist jetzt beendet, und nächstens dürfte die Schlussrechnung
erfolgen. Aber trotzdem kommen mir oft die 42 Jahren bei der Torfstreufabrik in
den Sinn. Dann bin ich froh, dass ich nicht mehr um ein paar kalte Nächte bangen
muss, damit der Torf auch gut ausfriert, oder dass wir wegen wochenlang dauern-
den Schlechtwetterperioden die Ware nicht liefern können und ich keine Ausein-
andersetzungen mit Arbeitern, Behörden und Kunden befürchten muss. Es könnte
mich locken, Vergleiche zu machen von einst und jetzt, wo Stundenlöhne von 80
Rappen regulär waren für Arbeiter der Ziegelei oder im Baugewerbe, wo man we-
gen Erhöhung des Akkordlohnes für von Fr. 2.80 auf Fr. 2.90 per Tausend Loden
lange Debatten führte. Wo anderseits der Unternehmer zu kämpfen hatte, um den
Preis eines Waggons Torfmull auf Fr. 360.- halten zu können. Von Zeiten, da noch
11- stündige Arbeitszeit üblich war und von Ferien für Arbeiter und Angestellte
nie die Rede war, wo Unfall- und Krankenversicherung nicht obligatorisch waren.
Wo Pensionskassen erst bei Staatsbetrieben und vereinzelten Grossbetrieben be-
standen. Die Torfstreufabrik allerdings hatte schon lange vor der Einführung der
SUVAL eine Unfallversicherung, die 100 % des Lohnes eines Verunfallten ver-
gütete, und von sozialem Verständnis zeugte auch der Umstand, dass die Firma
durch Übernahme von Bürgschaften Arbeitern ermöglichte, passende Liegen-
schaften zu erwerben. Als Folge dieser Einstellung kam es, dass wir jahrzehntelang
die gleichen Arbeiter hatten, und mehrmals geschah es, dass für einen abtreten-
den Vater dessen Sohn an seine Stelle trat.

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Rückblick

Gelegentlich kommen mir Gedanken, dass unsere Generation eigentlich in eine
ungünstige Zeit hineingeboren wurde. Während den besten Lebensjahren fanden
zwei Weltkriege statt; zwischen denselben waren noch die traurigen Dreissiger-
jahre zu überstehen. Wahrlich schlechte Voraussetzungen für einen jungen Mann,
und doch ist alles gut gegangen. Ausser einer Kropfoperation war ich in allen Jah-
ren nie ernstlich krank. Die 5/4 Jahre Militärdienst waren eigentlich auch kein
grosser Tribut an das Vaterland; es gibt Bürger, die dreimal soviel leisteten. Die
Kinder sind alle gesund und längst selbständig. Somit kann ich sorglos leben und
die AHV - Rente kommt auch jeden Monat so pünktlich wie die Sonntage im Ka-
lender, nur nicht so oft. Andererseits war es noch keiner Generation beschieden,
innert eines Menschenalters so viele technische und wissenschaftliche Fortschritte
zu erleben wie der unsrigen. So sah ich z.B. noch in den letzten Jahren des vorigen
Jahrhunderts, wie im Ziegelbrennofen Ölfunzeln verwendet wurden und meine
Mutter in der Küche ein bescheidenes Petrollämpchen als Beleuchtung hatte. Die
einzige Strassenlampe war auch eine Petrollampe, und all diese Lichter wurden
mit Schwefelhölzern angezündet. Später bewunderte man die Kohlenfadenlampe,
und bald kamen das Gaslicht und die Neonbeleuchtung und machten die Nacht
zum Tage. Ähnlich ging es mit der Kraft. Ich sah noch, wie man bei der Pferde-
handlung Büchel mit zwei Pferden einen Göpel antrieb, um die Kraft für die Kurz-
futtermaschine und die Haferbreche zu erhalten. Die Mühlen im Moos und Re-
hag besassen Wasserräder. Zimmermann Stieger hatte auf einem hohen Turm
ein Windrad, um etwas Strom zu bekommen für seine ganz abgelegene Liegenschaft.
Vor 1904 bezog man das Wasser aus Bächen oder Brunnen, und es soll vorge-
kommen sein, dass die kleinen Knöllchen in der Mehlsuppe Füsschen gehabt hät-
ten.

Heute bringt die Wasserversorgung gutes Wasser bis in die höchst gelegenen Häu-
ser hinauf, und ein Hydrantennetz erstreckt sich sich über die ganze Gemeinde;
die Feuerspritze ist ausser Betrieb, mit der früher zwölf Mann an den Hebeln Was-
ser aus dem Feuerweiher oder gestauten Bächen pumpten. Das gleiche geschah
im Verkehrswesen: Anfangs der neunziger Jahre sah ich noch meinen Vetter,
Schlosser Kolb, mit einem Hochrad heimfahren; bald kamen Fahrzeuge, die dem
heutigen Velo glichen, nur viel plumper waren und Vollgummibereifung besassen,
dann erfand Dunlop die Luftbereifung, und somit war der Auftakt zu einer unge-
ahnten Entwicklung erfolgt. Lastwagen kamen in Betrieb und beförderten Waren
vom Hersteller zum Verbraucher. Die Bahn stellte von Dampfbetrieb auf elektri-
sche Traktion um, Spelterini flog mit einem Luftballon und Zeppelin mit einem
lenkbaren Luftschiff, und auf dem Breitfeld machte, während ich in der Lehre war,
ein Bäckerssohn aus dem Linsenbühl, mit Namen Kunkler, Versuche mit einem
Aeroplan, wie man damals sagte. Mein Onkel fuhr 1902 nach Südamerika, und ich
höre heute noch, wie mein Vater aus einem Brief von dort vorlas, dass er nach fünf
Wochen Überfahrt gut in Rio angekommen sei. Lindberg flog 1927 in 33 Stunden
von Amerika über den Atlantik nach Paris, und ich flog 1967 in genau acht Stun-
den von Kloten nach Montreal.

Vor ein paar Monaten flogen gar drei amerikanische Astronauten per Rakete in
ein paar Tagen auf den Mond und wieder zurück. All das innert 70 Jahren!

Wie es mit dem Telefon war, habe ich schon berichtet; heute ist alles längst auto-
matisiert, man kann sich selbst mit jedem Abonnenten in der ganzen Schweiz ver-
binden. Vom Mond aus sprachen die Astronauten über Radiowellen mit Präsident
Nixon, und die ganze Welt konnte das Gespräch hören, und zwar so deutlich, als
ob sie nur von Mörschwil aus sprächen. Aus dem Gebiete der Chemie sei nur die

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Erfindung der Kunstfaser erwähnt; von der Vergiftung durch die chemische Schäd-
lingsbekämpfung will ich lieber schweigen. Dafür seien noch die Leistungen auf
dem Gebiet der Medizin festgestellt. So die Verpflanzung von Organen wie Nie-
ren oder Herzen, Mittel zur Regulierung des Bevölkerungswachstums oder Men-
schen aus der Retorte. Wenn das so weitergeht und man noch bedenkt, was alles
vom Computer und seiner Weiterentwicklung zu erwarten ist, wird man fast froh,
dass man gelebt hat, als das Leben noch lebenswert war!

Als bald Achtzigjährigem sei es mir noch erlaubt, ein paar Worte über das akute
Problem des Alterns zu schreiben. Es fällt allgemein auf, und die Statistiken be-
weisen es, dass der Anteil der über Siebzigjährigen, gemessen an der Gesamtein-
wohnerzahl der Schweiz, gross ist und noch grösser wird. Diese Tatsache gibt zur-
zeit den Zeitungen und den Behörden Anlass zu Erörterungen über diese Ange-
legenheit. Hauptsächlich die Errichtung von Wohngelegenheiten für alte Leute
drängt sich allenthalben auf.

Alters- und Pflegeheime für alte Leute, die aus irgendwelchen Gründen auf die
Hilfe der Öffentlichkeit angewiesen sind, sollten erstellt werden. Die Beschaffung
der nötigen Mittel ist für die jetzige Generation eine grosse Belastung neben al-
len anderen Aufgaben. Wenn sie aber überlegt, wie schnell man alt wird und dann
selber Nutzniesser dieser Werke wird, dürften sich diese Ausgaben lohnen. Zur
Führung der erwähnten Heime wäre es sehr wichtig, geeignetes Personal zu fin-
den und auszubilden. Die mit zunehmendem Alter auftretenden Beschwerden
körperlicher und seelischer Art kann man dem einzelnen nicht abnehmen, höch-
stens durch ärztliche Kunst etwas lindern, und sterben muss auch jeder selber,
wohne er in einer Hütte, einem Heim oder einem Schloss.

Dass vielfach die Eltern nicht bei ihren Kindern wohnen können, ist oft durch
Platzmangel bedingt, oft fehlt es aber auch an gutem Willen der Beteiligten. Dies
ist aber nichts Neues, zogen doch schon zu Gotthelfs Zeiten die Alten ins Stöckli.
Von zwei positiven Punkten soll aber auch die Rede sein. Die AHV ist ein grosses
soziales Werk, und ihre Renten ermöglichen einer Grosszahl von alten Leuten eine
gewisse Selbständigkeit. Bedauerlich ist nur, dass diese Rente wegen der Teuerung
immer an Kaufkraft verliert. Auch der Umstand, dass sie unter bestimmten Be-
dingungen als Einkommen versteuert werden muss, wird als Härte empfunden.

Als weitere Wohltat ist das Altersabonnement der SBB zu nennen, erlaubt es doch
vielen alten Leuten, Reisen per Bahn und Post zum halben Tarife zu machen. Ab-
schliessend sei noch eine denkwürdige Geschichte zitiert: Ein chinesischer Bauer
trägt seinen alten Vater in einem Korb aus dem Hause. Sein kleiner Sohn fragt den
Vater, wohin er mit dem Grossvater gehe, worauf dieser ihn erklärte, dass der
Grossvater nur noch ein unnützer Esser sei und er ihn deshalb zum Flusse hinab
trage, um ihn hineinzuwerfen. Darauf sagte der Knabe: «Vergiss dann nicht, den
Korb zurückzubringen, damit ich dereinst, wenn du alt bist und ich gross, dich auch
hinabtragen kann». Diese Methode wäre ja die einfachste Lösung der Probleme
des Alters. Kommt aber bei uns Gottseidank nicht in Frage, schon wegen der Ge-
wässerverschmutzung.

Nun bin ich bald ein Jahr im Altersheim Buchs als Pensionär; es gefällt mir hier
sehr gut. Nachdem ich im Winter 1970 / 71 eine Gallenblasen - und einen Monat
darauf noch die Prostata - Operation durchmachen musste, ist es mir jetzt wieder
wohl und ich habe in keiner Hinsicht Beschwerden.

Über das Leben im Altersheim liesse sich auch noch ein Kapitel schreiben, aber
zurzeit bringe ich die nötige Energie nicht auf, und überdies ist meine Zeit immer
voll ausgenützt mit kleinen Arbeiten im Haus und im Garten.

 

Leidbildchen

In Unser Rheintal (1975) p. 203 wurde kein Nachruf abgedruckt.

Karl Zäch (1892-1974)

Quelle: Unser Rheintal (1975) p. 203

 

__________
Erstellt durch Daniel Stieger (letzte Aktualisierung: 20.03.2024)
Letzte Änderung der Daten: 2018-05-26
Quellen: Oberriet, Bürgerregister (No. 2638) - Kind / Partner; Oberriet, Bürgerregister (No. 2713) - Kind; Oberriet, Taufbuch 1842-1912; Biografie Karl Zäch (1972)
 
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